Das neue Jahr begann in Israel mit einem Paukenschlag. Am Abend des 1. Jänner 2024 und mitten im Krieg gegen die Hamas in Gaza gab der Oberste Gerichtshof das wohl wichtigste Urteil in der Geschichte des Landes bekannt: Er kippte damit das Kernelement der höchst umstrittenen Justizreform, die die rechts-religiöse Regierung in Jerusalem vor einem Jahr angestoßen hatte.

Nur eine hauchdünne Mehrheit

Mit hauchdünner Mehrheit von acht zu sieben erklärten die Richterinnen und Richter die im Juli verabschiedete Änderung des Grundgesetzes für nichtig. Gleichzeitig stimmten zwölf von ihnen für eine Befugnis des Gerichts, Grundgesetze aufheben zu können. Durch die Novelle war der Justiz die Möglichkeit genommen worden, gegen „unangemessene Entscheidungen“ der Regierung Einspruch zu erheben. Kritiker der Justizreform warnten, dass dies der Korruption Tür und Tor öffne. So lobten Vertreter von Protestorganisationen sowie Opposition das Urteil und sprachen von einem „historischen Tag“. Die Bewegung für eine Qualitätsregierung, die eine der acht Petitionen gegen die Gesetzesänderung eingereicht hatte, nannte die Entscheidung, „einen riesigen Sieg derer, die für Demokratie kämpfen“.

Benny Gantz, Vorsitzender des Oppositionsbündnisses Nationale Einheit, und derzeit Mitglied des Kriegskabinetts, machte klar: „Das Urteil muss respektiert werden und Lehren aus dem Verhalten des vergangenen Jahres müssen gezogen werden.“ Nach dem Krieg werde man die Beziehungen zwischen den Regierungszweigen regeln und eine Verfassung erlassen müssen, die den Status der Grundgesetze verankert. Auch Oppositionsführer Yair Lapid drückte seine Unterstützung für das Oberste Gericht aus. Es habe „treu seinen Auftrag erfüllt, die Bürger Israels zu schützen“.

Es war das erste Mal, dass alle amtierenden Richter zu einer Urteilsfindung zusammengekommen waren. Die frühere Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, Esther Hayut, die nach ihrer Pensionierung drei Monate Zeit hatte, eine Stellungnahme zu dem Fall zu verfassen, schrieb, dass es nicht möglich sei, die Änderung mit dem Gesetz in Einklang zu bringen: „Das Grundgesetz über die Justiz sowie das Prinzip der Gewaltenteilung und des Rechtsstaatsprinzips sind zwei der wichtigsten Merkmale unseres demokratischen Systems. Ein solcher Verstoß gegen den Kern unseres Gründungsnarrativs kann keinen Bestand haben.“ Das Gericht müsse auch in Zeiten eines tobenden Krieges seine Rolle erfüllen, betonte sie.

Die Richter stellten in ihrer 700 Seiten langen Begründung fest, dass das Verfassungssystem Israels ungewöhnlich sei, und betonten den weitreichenden Charakter des Gesetzes, das jegliche Regierungsentscheidungen, einschließlich der Postenvergabe an wegen Korruption Verurteilter, vor der Justiz schützen würde. In Israel gibt es außer der gerichtlichen Überprüfung so gut wie keine institutionellen Beschränkungen für die Macht der Exekutive.

Nach dem Urteilsspruch tönten Stimmen aus der Koalition, dass dieser „die Einheit im Volk in Kriegszeiten bedroht“. Der Architekt der umstrittenen Reform, Justizminister Yariv Levin, sagte, es sei das „Gegenteil des Geistes der Einheit, der heutzutage nötig ist“. Dabei war es gerade die Regierungspolitik, die die israelische Gesellschaft so tief wie nie zuvor gespalten hatte. Jeden Samstagabend protestierten Hunderttausende Menschen dagegen, die darin eine Bedrohung für Israels Demokratie sahen.

Gerichte in Israel „zu mächtig“

Die Koalition von Premierminister Benjamin Netanyahu hatte argumentiert, dass die Gerichte in Israel zu mächtig seien und man lediglich ein Gleichgewicht schaffen wolle. Unter seiner Leitung wurde die Gesetzesänderung trotz massiven Widerstands im Parlament durchgedrückt. Nach dem jetzigen Urteil kommentierte Netanyahus rechtskonservative Likud-Partei, dass die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs „dem Willen des Volkes zur Einheit widerspricht, insbesondere in Kriegszeiten“. Sollte sich die Regierung dem Richterspruch widersetzen, droht dem Land eine Verfassungskrise.

Auch für Netanyahu persönlich ist das Urteil ein weiterer Rückschlag. Nach dem Massaker der islamistischen Hamas vom 7. Oktober ist sein Ansehen in der Bevölkerung stark gesunken. Besonders, da er sich nach wie vor weigert, auch nur einen Teil der Verantwortung für das Sicherheitsdesaster zu übernehmen. Viele Israelis werden die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes als Bestätigung sehen, dass Netanyahu – wie es der Großteil der Bevölkerung Umfragen zufolge derzeit will – endlich seinen Hut nimmt.