Im Herbst wählt Deutschland einen neuen Bundestag. Und so blitzen jeden Tag neue Umfragen auf – zuletzt zum Wochenausklang der Deutschlandtrend der ARD. SPD-Herausforderer Olaf Scholz (48 Prozent) führt in der Beliebtheitsskala weit vor seinen beiden Mitbewerbern ums Kanzleramt, Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock (27 Prozent) und Unions-Kandidat Armin Laschet (24 Punkte). Nur eine schwebt in den Erhebungen in anderen Sphären: Angela Merkel. 66 Prozent der Deutschen zeigen sich mit ihrer Arbeit zufrieden. Einziges Problem: Die scheidende Kanzlerin steht nicht mehr zur Wahl.

In der Flutkatastrophe zeigt Merkel wieder einmal ihre Stärke: Ruhe. Und schon gibt es erste Wehmutsbekundungen. Der Grünen-Politiker Danyal Bayaz, einst Bundestagsabgeordneter und jetzt Finanzminister in Baden-Württemberg, bekennt auf Twitter: „Ich habe am 14. März 2018 bei der Wahl der Bundeskanzlerin im Bundestag Angela Merkel meine Stimme gegeben. Sicher nicht wegen ihrer Politik, aber wegen ihrer Haltung. Sie hat mich nicht enttäuscht.“



Noch hat die Regierungschefin das Kanzleramt nicht verlassen, aber schon entwickelt Deutschland eine Sehnsucht nach der Welt von gestern. „Merkel hat als Kanzlerin alle unangenehmen Weltläufte von den Deutschen ferngehalten“, sagt Ralph Bollmann. Der studierte Historiker, im Helmut-Kohl-Stammland Pfalz geboren, im merkelianisch-protestantischen Tübingen aufgewachsen, ist Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Gerade hat er sein neues Buch vorgelegt: „Angela Merkel“, lautet der Titel der Biografie.

Nüchtern

Bollmann erklärt die Kanzlerin vornehmlich vor dem Hintergrund ihrer Herkunft. Der Protestantismus prägte ihre Finanzpolitik der schwäbischen Hausfrau. Erst muss erwirtschaftet werden, was ausgegeben wird. Ihre Ausbildung als Naturwissenschaftlerin lehrt sie, die Dinge nüchtern zu betrachten.

Ihre DDR-Vergangenheit mahnt sie, Staaten und ganze Gesellschaftssysteme können untergehen. Alles ist sicher, so lange es sicher ist – mit dieser Gewissheit hat Merkel Deutschland erst durch die Finanz-, dann durch die Eurokrise, durch den Flüchtlingsherbst und schließlich durch die Pandemie geführt. „Schaden vom deutschen Volk abwenden“ – kein anderer Regierungschef der Bundesrepublik hat seinen Amtseid so sehr als Auftrag für die Tagespolitik verstanden wie Merkel.
Von einer „Merkel-Nostalgie“ spricht Bollmanns Lektor Sebastian Ullrich vom C.H.Beck-Verlag und von einer „Sehnsucht nach der guten, alten Zeit“.

Die Sehnsucht ist auch vor den möglichen Nachfolgekandidaten zu verstehen: Armin Laschet lacht im Hintergrund, während der Bundespräsident der Flutopfer gedenkt. Annalena Baerbock bedient sich selbst bei der eigenen Biografie mit Passagen aus anderen Büchern.
Einzig Olaf Scholz kommt sein präsidial-nüchterner Stil in der Krise zugute. In einer Civey-Umfrage bescheinigen dem SPD-Politiker 41 Prozent Krisenkompetenz, bei Laschet sehen das nur 26 Prozent gegeben und 24 Prozent bei Baerbock.

Bei allem Respekt – das sind unfassbar niedrige Werte. So diskutieren viele im Land nicht darüber, für wen sie bei der Bundestagswahl im September votieren, sondern wem sie ihre Stimme nicht geben. Es ist eine Kanzlerwahl nach Ausschlussprinzip.

Von einem Merkel-Blues ist die Rede. Dabei gäbe es nach Merkels 16 Jahren im Amt viel zu erörtern. Die marode Infrastruktur, die defizitäre Rentenkasse, ein Gesundheitssystem, das im 21. Jahrhundert noch auf Faxgeräte vertraut oder ein Katastrophenschutz, der wie an Erft, Kyll und Ahr gesehen, lieber auf Sirenen setzt als auf digitale Unwetter-Warnapps. Eine britische Forscherin hat den deutschen Behörden Systemversagen vorgeworfen. Die weisen die Anschuldigungen zurück.

Bundesinnenminister Horst Seehofer will an der dezentralen Struktur des Katastrophenschutzes festhalten. Armin Schuster, Chef des Bundesamts für Katastrophenschutz (CDU), hat intern die Devise ausgegeben, erst zu retten und zu helfen. Die Fehleranalyse folgt später.
Schuster trat sein Amt im Vorjahr nach einer Pannenserie beim Katastrophenschutz an. Sein Vorgänger musste nach einem Fehlschlag bei einem bundesweiten Test der Warnketten im Katastrophenfall gehen. So zeigt sich auch hier, wie mäßig Deutschland auf die Zukunft vorbereitet ist. Merkels Politikstil sei „zu reaktiv“, befindet Biograf Bollmann im Gespräch mit Journalisten. Man kann es auch so sagen: Die Sehnsucht nach der Welt von gestern in Deutschland speist sich aus einer gehörigen Angst vor dem morgen. Das Land steht vor gewaltigen Veränderungen. Nicht allein im Kanzleramt.