Der frühere EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hat vor einem übereilten Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union gewarnt. "Wer mit der Ukraine zu tun gehabt hat, der weiß, dass das ein Land ist, das auf allen Ebenen der Gesellschaft korrupt ist", sagte Juncker in einem am Donnerstag veröffentlichten Interview der "Augsburger Allgemeinen". "Trotz der Anstrengungen ist es nicht beitrittsfähig, es braucht massive interne Reformprozesse", sagte Juncker weiter.

"Bis zum Hals im Leid"

Die EU habe mit einigen "sogenannten neuen Mitgliedern" schlechte Erfahrungen mit Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit gemacht. Das dürfe sich nicht wiederholen. Auch dem Land selbst gegenüber, sei ein solches Vorgehen nicht fair, gab Juncker zu bedenken. "Man darf den Menschen in der Ukraine, die bis zum Hals im Leid stecken, keine falschen Versprechungen machen."

Dennoch müsse eine "europäische Perspektive" für Moldau und die Ukraine, "die sich so tugendhaft (gegen Russland) wehrt und europäische Werte verteidigt", aufrechterhalten bleiben. Es müsse möglich sein, dass diese Länder "an Teilen der europäischen Integration teilnehmen können", meint Juncker. "Wir sollten darauf hinwirken, dass so etwas wie ein teilweiser Beitritt möglich wird, eine intelligente Form der Fast-Erweiterung."

EU-Ratspräsident Charles Michel befürwortet unterdessen einen Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union bis zum Jahr 2030 – unter bestimmten Voraussetzungen. "Die Ukraine kann 2030 zur EU gehören, wenn beide Seiten ihre Hausaufgaben machen", hatte Michel dem "Spiegel" (Dienstag) gesagt. Er forderte von der EU unter anderem eine Beschleunigung der Entscheidungsprozesse.

Der FPÖ-Delegationsleiter im Europaparlament, Harald Vilimsky, befürchtet hingegen massive Auswirkungen auf die EU-Finanzen und dadurch auch auf die einzelnen Mitgliedsstaaten. "Ein EU-Beitritt der Ukraine, wie er jetzt vonseiten Brüssel auf Biegen und Brechen forciert wird, ist aus vielen Gründen abzulehnen. Einer davon sind die massiven Auswirkungen, die dieser auf das EU-Budget hätte", so Vilimsky in einer Aussendung vom Donnerstag.

"Medienberichten zufolge modelliert die EU-Kommission gerade die Folgen am Beispiel des aktuellen Finanzrahmens 2021 bis 2027. Demnach würde allein die Ukraine daraus 186 Milliarden Euro erhalten", so Vilimsky, der sich dabei auf Recherchen der "Financial Times" bezog. "Im Klartext heißt das, dass nur die Ukraine rund 15 Prozent des gesamten EU-Budgets benötigen würde."

Massiver Anstieg der Beiträge?

"Aus den Kohäsionstöpfen der EU, die ein weiteres Drittel des Haushalts ausmachen, würde die Ukraine den Berechnungen zufolge 61 Milliarden abräumen. Das Land liegt mit seinem BIP pro Kopf auf dem Niveau von Algerien oder Sri Lanka und damit auf rund einem Zehntel des EU-Schnitts", sagte Vilimsky. Mehrere Länder würden dann keine Kohäsionsmittel mehr erhalten. Auch ein massiver Anstieg der Beiträge der bisherigen EU-Nettozahler, darunter Österreichs, sei zu befürchten.

Angesichts des russischen Angriffskriegs hat auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock wiederholt für einen EU-Beitritt der Ukraine geworben. Bei einer Wahlkampfveranstaltung der bayerischen Grünen in München am Sonntag hatte Baerbock gesagt, es sei Deutschlands Aufgabe, "wenn dieser furchtbare Krieg endlich vorbei ist, dass auch die Ukraine mit in die Europäische Union kommen kann". Es liege an Deutschland, die EU weiterzubauen.