Als Ursula von der Leyen aus dem Eurostar in der St. Pancras Station in London stieg, herrschte im Vereinigten Königreich schon Nervosität genug – noch vor dem erwarteten Vertragsschluss am selben Tage. Premierminister Rishi Sunak hatte die EU-Kommissions-Präsidentin auf die Insel eingeladen, um "abschließende Gespräche" über einen neuen Brexit-Deal für Nordirland zu führen – und diesen Deal gleich abzuzeichnen, noch vor seiner Erklärung im Parlament. Einig über den neuen Vertrag war man sich in Brüssel und London offenbar schon seit mehreren Wochen gewesen.

Schlucken es die Tories und die DUP?

Am Ausgang der Verhandlungen bestand also kein Zweifel. Ein große Frage war indes, ob Sunak die Vereinbarung mit der EU seinen Ministern und Hinterbänklern und Nordirlands Partei der Demokratischen Unionisten (DUP) würde schmackhaft machen können. Bei den Brexit-Hardlinern, die er zu überzeugen hoffte, wurde noch immer über unzureichende EU-Zugeständnisse gemunkelt, über einen erneuten "Ausverkauf unserer Souveränität".



Niemand wagte zu prophezeien, ob es Sunak gelingen würde, den Weg zu ebnen für das von ihm erhoffte reibungslosere Verhältnis "zum Kontinent". Er und seine Besucherin aus Brüssel stellten die neue Brexit-Vereinbarung als "Windsor-Rahmenabkommen" vor. Die erzielte Einigung sieht vor, dass der Warenverkehr von und nach Nordirland über zwei Spuren erfolgt. Die rote für Waren, die aus oder in den EU-Binnenmarkt gebracht werden, eine grüne für Produkte aus Großbritannien. Für die grüne Spur sollen keine Zollpapiere mehr ausgefüllt werden. Neu Absprachen gibt es zudem bei Arzneimitteln, aber auch für Haustiere.

Von der Leyen strich hervor, dass man "von Anfang an ehrlich miteinander war". Sie und Sunak betonten. „die Interessen beider Seiten respektiert“ und "ein neues Kapitel in der Partnerschaft" der EU mit Großbritannien eröffnet zu haben. Sunak pries einen "echten Wendepunkt für Nordirland", räumte aber auch ein, dass EU-Recht "noch immer seinen Platz in Nordirland hat". Mit dem neuen Vertrag hofft der Tory-Premier, das Verhältnis zur EU zu entspannen, aber auch seine eigene Position in der Partei zu stärken. Angesichts der katastrophalen Umfrageergebnisse sehnen sich jetzt viele Tories nach Frieden an der Brexit-Front.

"Ein fantastisches Resultat"

Sogar ein ehemaliger Haudegen wie Steve Baker, Ex-Vorsitzender der Antieuropäer in der Fraktion, der "European Research Group" (ERG), zeigte sich beeindruckt von dem, was der Premierminister im Zusammenspiel mit der EU erreicht hatte und wünschte ihm Erfolg. Der neue Nordirland-Vertrag sei "ein fantastisches Resultat" für die Regierung, erklärte Baker, der inzwischen Staatssekretär im Nordirland-Ministerium ist. Mark Francois, Bakers Nachfolger an der Spitze der ERG, erinnerte Sunak hingegen daran, dass die Brexit-Hardliner der Partei und die DUP-Unionisten sich schlicht nicht mit ein paar kosmetischen Maßnahmen abfinden würden.

Bei der DUP schien eine gewisse Verwirrung zu herrschen: Irische Quellen meldeten, die Partei werde sich trotz aller Bedenken mit der Neuvereinbarung abfinden. DUP-Vorsitzender Jeffrey Donaldson meinte, seine Partei werde sich "Zeit nehmen", um den Vertrag eingehend zu studieren – und um sich darüber klar zu werden, ob er akzeptabel sei oder nicht. Von der Entscheidung der DUP machten wiederum Dutzende Tories abhängig, ob sie sich gegen den Vertrag stemmen werden. Mit Hilfe der DUP und womöglich mit Unterstützung von Ex-Premier Boris Johnson hoffen die entschlossensten Brexiteers Sunaks Basis zu erschüttern, um erneut einen scharfen Anti-EU-Kurs zu fahren.