Allah, Allah, – meine Kinder sind tot, was haben wir getan...?“, hört man einen verzweifelten Vater live in einem israelischen Fernsehstudio am Telefon. Es ist Izzeldin Abuelaish. Gerade wurde sein Haus im Gazastreifen von israelischen Granaten getroffen. Einen Moment zuvor war er aus dem Schlafzimmer seiner Kinder getreten, dann schlugen die Granaten eben dort mit voller Wucht ein. Abuelaishs Töchter Bessan, Mayar, Aya und seine Nichte Noor waren sofort tot. Eine weitere Tochter, sein Bruder und ein Neffe wurden schwer verletzt. In seiner Verzweiflung greift der angesehene palästinensische Arzt zum Telefonhörer und ruft seinen Freund Shlomi Eldar an, den früheren Reporter in Gaza und leitenden Redakteur eines staatlichen Fernsehsenders in Israel. Als dieser in einer Livesendung abhebt, gehen die Worte von Abuelaish um die Welt. „Was haben wir getan ...?“ Es ist eine Anklage an beide Seiten.


Israel begeht im Mai 2023 seinen 75. Geburtstag. Die Region findet seit Jahrzehnten keinen Frieden. Bewaffnete Konflikte, Terroranschläge und Gewalt gehören zum Leben der Menschen auf beiden Seiten.
„Die Sendung hatte einen enormen Effekt auf die Israelis, die bis dahin nichts vom Gazastreifen hatten hören wollen, weil sie so wütend über die acht Jahre Raketenbeschuss durch die Hamas waren“, erzählt Eldar später in einem Interview.

"Ich werde nicht hassen"

Während viele Israelis erstmals hautnah vom Horror der Menschen in Gaza erfuhren, erlebte Abuelaish in den folgenden Wochen seine persönliche Hölle. Er verzweifelte, suchte Trost in seinem Glauben und fand doch keine Ruhe. Er spürte den Hass in sich hochsteigen. Und den Wunsch nach Vergeltung.

Seine Erinnerungen hat der Arzt in einem Buch aufgeschrieben
Seine Erinnerungen hat der Arzt in einem Buch aufgeschrieben © KK


„Doch ich erlaubte es mir nicht. Hass ist wie ein Feuer, das alle verbrennt, die damit in Berührung kommen. Doch bevor man den Hass überwinden kann, muss man sich selbst dafür vergeben diese Gefühle zu haben. Erst dann kann man verzeihen“, erzählt Abuelaish im Gespräch mit der Kleinen Zeitung. Er gab sich selbst ein Versprechen: Ich werde nicht hassen.“


Doch woran festhalten, wenn man alles verloren hat? „An der Hoffnung“, sagt Abuelaish. Und das tat er auch. Er gründete im Namen seiner Töchter eine Organisation, die „Daugthers for Life Foundation“. „Ich wollte meine Kinder am Leben halten und ihrer Tragödie in irgendeiner Form etwas Positives abringen.“ Unaufhaltsam kämpft er für den Frieden zwischen Israelis und Palästinensern. Dafür war er bereits mehrmals für den Friedensnobelpreis nominiert. Beinahe stoisch geht er trotz seiner Verluste auf die andere Seite zu. Schon sein Leben lang, erst recht nach dem Angriff, wie er selbst sagt. Denn das Leid der Menschen sei von Menschen gemacht. Und könne nur von Menschen beendet werden, ist sich der heute in Kanada lebende Arzt sicher. Hass bringe einen dabei nicht weiter.


Doch der Hass in Israel und den besetzten Gebieten greift weiter um sich: Etliche Israelis wurden 2022 bei Anschlägen getötet, Israel griff jüngst den Gazastreifen an. Der designierte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu wird in seiner künftigen Regierung auch auf rechtsextreme Kräfte setzen. Seine Reformpläne wecken Sorgen um die Demokratie in Israel und um die Verschärfung des Konflikts mit den Palästinensern. Der Anführer der islamistischen Hamas im Gazastreifen, Jihia al-Sinwar, hat der neuen Regierung vorgeworfen, sie strebe einen „religiösen Krieg“ an. Er sprach von einer „offenen Konfrontation“ und rief die gemäßigtere Palästinenserbehörde von Präsident Mahmud Abbas im Westjordanland dazu auf, die Sicherheitszusammenarbeit mit Israel zu beenden.
Die Aussicht auf Frieden scheint in der Region unerreichbar. „Das Leben im Gazastreifen ist hoffnungs- und würdelos. Es ist voll von Traurigkeit und Leiden. Die Menschen sind arbeitslos und perspektivenlos. Kinder, die 2000 zur Welt gekommen sind, haben bereits fünf Kriege erlebt und waren noch nie außerhalb des Gazastreifens.“ Das führe zu Hass und Gewalt, das wiederum zu noch mehr Gewalt führt, meint Abuelaish. „Ich verurteile jegliche Form der Aggression. Doch für mich ist das ein Symptom eines zugrunde liegenden Übels: die gewaltsame Besatzung der Palästinensergebiete.“

Hoffnung auf Versöhnung


Und dennoch lebt in Abuelaish die Hoffnung auf Versöhnung. „Das Leben ist, was wir daraus machen. Es liegt an uns Palästinensern und Israelis, diesen Konflikt und die tödliche Spirale der Gewalt zu beenden. Und ich glaube daran, dass es möglich ist.“ Denn: „Wenn wir keine Hoffnung mehr haben, sind wir bereits tot.“