Ankara sei auch in Sicherheitsfragen und beim Thema "illegale Migration" ein wichtiger Partner, meinte Nehammer und erwähnte die "Millionen von Flüchtlingen, die sich derzeit in der Türkei aufhalten".
Es sei bei dem Gespräch keine "Verstimmung" spürbar gewesen, analysierte Nehammer die Stimmung während des Treffens, dem eine lange Eiszeit in den bilateralen Beziehungen zwischen Wien und Ankara vorangegangen war. "Es war ein Austausch von Standpunkten", so der Bundeskanzler, der vom "Interesse an unterschiedlichen Positionen" geprägt gewesen sei. Dabei seien auch eher schwierige Themen angesprochen worden, wie jene zum Verhältnis Erdogans zu "Türken, die ihren Lebensmittelpunkt in Österreich gefunden haben".
Das Meeting mit Erdogan sah Nehammer aber als "Beginn eines entspannteren Verhältnisses" mit dem autokratischen Präsidenten der Türkei. Das könnte auch dazu führen, dass Ankara künftig nicht mehr die militärische Zusammenarbeit mit Österreich in der Partnerschaft für den Frieden (PfP) blockiere.
Potenzial der Türkei nutzen
Bezüglich ihrer potenziellen EU-Annäherung habe die Türkei eine realistische Sicht, dass es dazu nicht kommen werde, meinte Nehammer sinngemäß, doch sei sich Ankara seiner geostrategischen Position bewusst. Bezüglich des Kriegs in der Ukraine müsse das Potenzial der Türkei genutzt werden, um die "grünen Korridore" zum Export von Getreide aus der Ukraine zu ermöglichen, bekräftigte Nehammer. Zudem sollte der "Istanbuler Dialog" mit Gesprächen zwischen Russland und der Ukraine fortgesetzt werden, um eventuelle Chancen auf eine Verhandlungslösung zu wahren. Dieser sei aktuell die einzige Plattform, wo die Kriegsparteien Russland und die Ukraine tatsächlich miteinander reden würden.
Konkret gehe es vor allem darum, dass mithilfe der Türkei "grüne Korridore" zum Export von Mais oder Weizen aus der Ukraine geschaffen werden könnte. Es handle sich immerhin um Mengen in der Größenordnung von 90 Millionen Tonnen, die etwa in Afrika dringend benötigt würden, erinnerte Nehammer. So sei die Ukraine bereit, den Hafen von Odessa von Minen zu räumen, um Exporte zu ermöglichen – aber nur, wenn Russland garantiere, dies nicht für eine Eroberung der Hafenstadt am Schwarzen Meer zu nutzen. Die von beiden Seiten als Partnerin akzeptierte Türkei könnte diese Sicherheitsgarantien überwachen und auch umsetzen.
Die Türkei ist wie Russland und die Ukraine ein Anrainer des Schwarzen Meeres. Das Nato-Mitglied hat gute Beziehungen zu beiden Staaten und verfolgt bei seiner Vermittlungstätigkeit das Ziel, eine Balance zwischen den russischen und ukrainischen Interessen zu finden. Die Türkei hat den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine in der UNO-Vollversammlung zwar verurteilt, sich den westlichen Sanktionen aber nicht angeschlossen.
Ein Nato-Beitritt Österreichs ist für Nehammer auch nach der Aufnahmeverfahren von Schweden und Finnland weiter kein Thema. Zwar gebe es eine neue Qualität der Kooperation neutraler oder bündnisfreier Staaten wie Österreich mit der westlichen Verteidigungsallianz, doch stelle eine Mitgliedschaft keine "Variante des Denkens" dar, formulierte Nehammer am Mittwoch am Rande des Nato-Gipfels in Madrid. Österreich sei und bleibe neutral, aber auch ein verlässlicher Partner in Fragen der Sicherheitspolitik.
Dass es am Mittwochabend zu einem von Spaniens Premierminister Pedro Sánchez (Sozialisten/PSOE) initiierten "Euroatlantischen Abendessen" kam, zu dem neben Vertretern der Nato-Länder auch bündnisfreie EU-Staaten geladen seien, interpretierte Nehammer als eine "neue Qualität" der Beziehungen und möglicherweise sogar "Zeitenwende" der Kooperation. Dies sei wohl auch auf den Krieg in der Ukraine zurückzuführen. Bereits vor dem Gipfel hatte Nehammer die Bedeutung einer guten Kooperation hervorgehoben. "Die Zusammenarbeit der Nato und der EU ist ein wichtiger Bestandteil der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik."
Als "falsches und fatales Signal" kritisierte FPÖ-Generalsekretär Michael Schnedlitz die Gipfelteilnahme Nehammers. "Einmal mehr beschädigt Nehammer damit mutwillig unseren Status als neutrales Land. Das 'N' in Nato steht definitiv nicht für immerwährende Neutralität." Der Kanzler hätte angesichts von explodierender Teuerung, steigenden Asylzahlen und Energieversorgungsproblemen "genug in Österreich zu tun. Stattdessen führt er lieber Small Talk in Spanien".
Weiters traf der Bundeskanzler am Mittwoch mit Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko zusammen. Mit Klitschko stimmte sich Nehammer ab, welche Hilfen die ukrainische Hauptstadt aus Österreich aktuell brauchen könnte. Angesprochen wurde vor allem die Lieferung weiterer Lösch- und Rettungsfahrzeugen.