Die militärische Abhängigkeit von den USA beim Evakuierungseinsatz in Afghanistan befeuert in der EU erneut die Diskussion über den möglichen Aufbau einer eigenen schnellen Eingreiftruppe. Die Notwendigkeit zusätzlicher europäischer Verteidigungsfähigkeiten sei nie so deutlich gewesen wie heute, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Donnerstag zum Auftakt von Beratungen der EU-Verteidigungsminister in Slowenien, an auch Österreichs Verteidgungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) teilnahm.
Er hoffe darauf, dass man nach den Ereignissen in Afghanistan engagierter konkrete Ergebnisse und Entscheidungen anstreben werde, betonte Borrell. Die Entwicklungen am Hindukusch, aber auch im Nahen Osten und der Sahelzone zeigten, "jetzt ist die Zeit zu handeln", sagte auch General Claudio Graziano, Chef des EU-Militärausschusses. Die EU müsse ein "globaler strategischer Partner" sein, so Graziano.
Der Plan zum Aufbau einer schnellen Eingreiftruppe liegt schon seit Jahren in den Brüsseler Schubladen. Lahmgelegt ist das Projekt durch unterschiedliche Auffassungen bei der Finanzierung sowie eine Scheu, dass die EU tatsächlich militärisch aktiv wird. Die bisherigen Überlegungen sahen vor, eine rund 5.000 Soldaten starke EU-Truppe zu schaffen, die innerhalb kurzer Zeit in Krisenländer verlegt werden kann. Nach den Entwicklungen in Afghanistan dürfte sie aber noch einmal auf den Prüfstand kommen. So könnte die Einheit nach Angaben des slowenischen EU-Ratsvorsitzes vom Donnerstag auch deutlich größer werden und bis zu 20.000 Soldaten umfassen.
In Afghanistan hatten nach der Machtübernahme der Taliban Mitte August zunächst rund 6.000 US-Soldaten den Weiterbetrieb des Flughafens in Kabul für Evakuierungsflüge abgesichert. Wegen deren Abzugs mussten die Europäer dann allerdings ihre Rettungsflüge für schutzbedürftige Menschen früher als eigentlich gewünscht einstellen.
Die Diskussion am Vormittag war laut Tanner insbesondere den Lehren gewidmet, die man aus den Ereignissen in Afghanistan ziehen muss. "Die rasche Handlungsfähigkeit im Bereich der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist ohne Zweifel etwas, dem wir uns widmen müssen", sagte Tanner am Rande des Ministertreffens zur APA. In der Diskussion wurde laut Tanner hervorgehoben, dass die Evakuierungen aus Kabul zwar funktionierten, aber nur auf der bilateralen Basis. Es fehlte ein EU-Ansatz, betonte sie.
Die Lehren aus Afghanistan sind laut der Ministerin auch für andere EU-Missionen wichtig, wie etwa in Mali und im Sahel. In der Diskussionsrunde habe Tanner auch mitgeteilt, dass Österreich in Mali weiterhin im Einsatz bleiben werde, erklärte sie. Im ersten Halbjahr 2022 übernimmt Österreich das Kommando der dortigen EU-Training Mission.
Wie man die jetzigen Lehren für laufende Einsätze nützen könne, sei ein Thema im Bereich des "Strategischen Kompasses", sagte die Verteidigungsministerin. Bei dem Treffen in Slowenien standen Gespräche über das Dokument, das eine Grundlage für das künftige Handeln der EU im sicherheitspolitischen Umfeld sein wird, ebenfalls an der Tagesordnung. Die mehrfach geäußerte Forderung, dass der "Strategische Kompass" ein klar verständliches und politisch bindendes Dokument darstellen muss, deckte sich mit der österreichischen Erwartungshaltung, hieß es aus dem Verteidigungsministerium.
In Bezug auf Erwägungen über den möglichen Aufbau einer schnellen Eingreiftruppe, hob Tanner die bestehenden Battlegroups hervor, die bis dato noch nicht zum Einsatz gekommen sind. "Die Evaluierung dieser Battlegroups muss der nächste Schritt sein", betonte die Ministerin und fügte hinzu, dass sich alle Minister darüber einig seien. "Man sieht, dass es sich nicht an der Handlungsfähigkeit oder an den militärischen Mangel liegt, sondern an den politischen Entscheidungswillen", so Tanner zur APA. Auf die Frage, ob denn jetzt der politische Willen bei den EU-Staaten zu sehen sei, betonte die Ministerin, dass "jetzt alle an einem Strang ziehen, was die Lehren aus Afghanistan anbelangt".
Am Abend sowie am Freitag beraten die EU-Außenminister, darunter Österreichs Chefdiplomat Alexander Schallenberg (ÖVP), im Rahmen eines informellen Treffens - ebenso im slowenischen Kranj - über Afghanistan. Im Vorfeld des Treffens sagte Schallenberg im Interview mit dem RBB Inforadio, dass er sich ein klares Signal an Afghanistan erwarte, dass die EU im Land bzw. der Region helfen wolle. Das wesentliche Ziel sei es, die Probleme in Afghanistan zu "containen". Es gehe jetzt nicht darum, "neue (Flüchtlings-)Ströme in Europa aufzunehmen", bekräftigte er die ablehnende Haltung der ÖVP bei der Flüchtlingsaufnahme. Man dürfe nicht erst helfen, wenn sich das Problem an den EU-Außengrenzen manifestiere - "denn dann wäre es eigentlich schon zu spät".
Schallenberg sprach sich zudem für Gespräche mit den radikal-islamischen Taliban aus - unter Bedingungen, wie er betonte: "Respekt der Grund- und Freiheitsrechte für alle afghanischen Staatsbürger, Respekt auch der Minderheitenrechte, Inklusivität und auch Respekt der internationalen Verpflichtungen, die Afghanistan eingegangen ist." Kontakte auf technischer Ebene seien unerlässlich, aber es dürfe "keine Blankoscheck" für die neuen Machthaber in Kabul geben.