Herr Münkler, Sie sind zwar Historiker, kein Prophet. Aber wie werden wir uns eines Tages an Corona erinnern?
HERFRIED MÜNKLER: Lassen Sie mich vorausschicken, dass das, woran Gesellschaften sich erinnern, was also ein prägender Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses ist, nicht identisch mit dem sein muss, was an einem Ereignis wirklich wichtig war und eine Zäsur in der Zeit darstellt. Wir werden uns erinnern an die lange Unterbrechung unseres gewohnten Lebens und vieler für uns wichtiger Kontakte, an das Zurückgeworfensein auf uns selbst und den engsten Familienkreis, das angespannte Warten auf die Impfkampagne, das unsichere Agieren der Politik. Diese Erinnerung wird durch unseren Gefühlshaushalt bestimmt sein. Bei Vielen wird Angst, bei anderen Wut im Mittelpunkt stehen. Insofern wird es keine einheitliche Erinnerung geben, sondern die gegenwärtigen Spaltungslinien der Gesellschaft werden auch in deren späterer Erinnerung präsent bleiben.
Sie haben Corona mit der großen Pestwelle von 1348 verglichen. Ist das nicht übertrieben?
Vergleichen heißt nicht Gleichsetzen. Der Erreger der Pest blieb auch, verschwand also nicht und hat die Europäer noch lange, bis ins 18. und 19. Jahrhundert beschäftigt. Und er kam ebenfalls aus Ostasien, wo er offenbar endemisch war, während er in Europa pandemisch wurde. Aber dann kommen auch die Unterschiede in den Blick: Innerhalb kürzester Zeit wurde jetzt ein Impfstoff entwickelt, der das Virus zwar nicht zum Verschwinden brachte, aber ein normales Leben mit ihm tendenziell ermöglicht hat. Der wissenschaftliche Fortschritt hat die Lage grundlegend verändert, vor allem sorgt er dafür, dass wir nicht, wie im Europa des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit der Fall, mit immer neuen Wellen rechnen müssen, die die Gesellschaften dezimieren und in tiefe Krisen stürzen. Der Vergleich kann also durchaus – in Grenzen selbstverständlich – deutlich machen, wie sich die Lage entwickeln würde, wenn wir alle Impfgegner wären. Er ist ein Denkmodell, das zeigt, worin der Unterschied liegt zu Zeiten, in denen die Menschheit Pandemien hilf- und wehrlos ausgeliefert war.
Sie halten Corona für einen Wendepunkt. Warum ist es das?
Corona ist insofern ein Wendepunkt, um nicht zu sagen, eine Zäsur, als die Pandemie zentrale Annahmen unserer Gesellschaft und auch der angestrebten internationalen Ordnung infrage gestellt hat. Was die eigene Gesellschaft anbetrifft, ist die Vorstellung von der Planbarkeit und Berechenbarkeit der Zukunft an ihre Grenzen gelangt. Was früher die Formel „So Gott will“ war, ist zur Phrase „Wenn es die pandemische Lage erlaubt“ geworden. Wir stellen Zukunft also wieder unter Vorbehalt.
Wird der Einbruch des Unvorhersehbaren eine bleibende Hinterlassenschaft der Pandemie sein?
Schwer zu sagen, aber vorerst gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Pandemie verschwinden würde. Wir können sie in Grenzen halten, aber müssen sorgsam und wachsam bleiben, sonst kommt infolge viraler Mutationen die fünfte und schließlich xte Welle, oder ein ganz anderes Virus taucht auf und löst eine neue Pandemie aus. Der Vorsorgestaat ist zurückgekehrt und er wird sicherlich noch stärker werden. Die Ära des Neoliberalismus geht zu Ende, das Vertrauen in globale Lieferketten ebenfalls, man braucht Puffer und Reserven - all das wird die Politik gegenüber der Wirtschaft wieder stärken, wie wir das ja auch schon auf dem Höhepunkt der Pandemie gesehen haben.
Stellt die Rückkehr des starken Staates eine Bedrohung für Freiheit und Demokratie dar?
Nein, im Gegenteil: Ein starker Staat ist in der Regel der Garant von Freiheit und Demokratie –jedenfalls ist er unter den Bedingungen bürgerschaftlicher Partizipation und rechtsstaatlicher Bindungen die Voraussetzung dafür. Er ist der Rahmen demokratischer Einflussnahme und der Verteidiger der Freiheit. In der Debatte der letzten Jahre sind – vielfach mit Grund – der Bedeutungsverlust des Staates und die Übertragung vieler seiner Befugnisse auf internationale Organisationen oder deren Auslagerung an privatwirtschaftliche Akteure als schleichende Entdemokratisierung beklagt worden. Der Bedeutungsgewinn des Staates im Gefolge der Pandemie ist also auch eine Chance für die Demokratie. Ob sie genutzt wird, steht dann freilich auf einem anderen Blatt.
Impfgegner und „Querdenker“ begehren gegen die „Diktatur des Staates“ auf. Wie tief reicht die Spaltung unserer Gesellschaft?
Der Konflikt dreht sich zunächst um das Verständnis von Freiheit: Verstehe ich darunter das Recht, machen zu können, was ich will, oder begreife ich mit Kant Freiheit als die Eröffnung von Handlungsoptionen, die mit der Freiheit aller anderen zusammen bestehen können müssen – und das aus eigener Einsicht. Ersteres ist eine Freiheit, bei der sich letzten Endes die Starken gegen die Schwachen durchsetzen, also anarchische Freiheit, während Letzteres der genuin demokratische Freiheitsbegriff ist. Am Überschneidungsbereich beider Vorstellungen hat es schon immer Dissens gegeben, und dieser Dissens ist bei den Maßnahmen des Staates zur Eindämmung der Pandemie einmal mehr hervorgetreten. Das ist im Prinzip nicht neu, sondern ein Konflikt, der einer jeden freiheitlichen Ordnung inhärent ist. Man könnte das auch am Recht des Waffenbesitzes oder zur Durchführung von Autonomieabstimmungen exemplifizieren. Deswegen bin ich auch bei der Diagnose einer Spaltung der Gesellschaft zurückhaltend. Zur freiheitlichen Ordnung gehört nun einmal, dass sie der Uneinsichtigkeit oder gar der Dummheit gewisse Spielräume belässt. Die Frage ist für mich also eher, ob in einem Jahrhundert der Pandemien und des Klimawandels die westlichen Demokratien sich den autoritären, dirigistischen Regimen Ostasiens, namentlich China, gewachsen zeigen – oder nicht. Die nämlich räumen dem Widerspruch, mag er aus Einsicht oder Dummheit erfolgen, keinen Spielraum ein. Das wird die große Frage des 21. Jahrhunderts sein, an der sich das Überleben der freiheitlichen Demokratie entscheiden wird.
China und Russland waren schon immer eine Herausforderung für den demokratischen Westen. Hat die Pandemie die alten Gegensätze verschärft?
Das lässt sich schwer sagen, die Pandemie hat die Gegensätze jedenfalls nicht in den Hintergrund treten lassen, was bei der Bewältigung einer globalen Herausforderung ja eigentlich nahegelegen wäre. Dass das nicht der Fall war, dass Corona in keiner der drei Hauptstädte – Washington, Peking und Moskau – als ein gemeinsam zu bewältigendes Problem gesehen wurde, zeigt, wie tief die Gegensätze und Konflikte bereits geworden sind. Das lässt nichts Gutes für den weiteren Umgang mit dem Klimawandel erwarten. Und es zeigt auch, dass die Europäer, die auf eine eher kooperative Bearbeitung der Pandemie gesetzt haben, nicht in der Lage sind, die Rhythmik des Geschehens zu bestimmen.
War das nicht erwartbar?
Ja, wahrscheinlich hätte man das absehen können, aber es herrscht nach wie vor die Erwartung vor, dass die Menschheit auf Menschheitsaufgaben einigermaßen geschlossen, zumindest kooperativ herangeht. Der Umgang mit Corona zeigt, dass damit nicht zu rechnen ist. Das hat Folgen für die Hoffnungen, die sich mit dem Pariser Klimaabkommen verbinden.
Welche Lehren sollte Europa aus Corona ziehen?
Man muss energischer als bislang das anstreben, was Frau Merkel einmal die strategische Autonomie Europas genannt hat, also eine eigene Handlungsfähigkeit, bei der man nicht auf andere angewiesen ist. Dazu ist eine engere Zusammenarbeit vonnöten, als erstes Kooperation zwischen Deutschland, Frankreich und Italien. Das ist ein gewaltiges Stück Arbeit, und es bedeutet, dass die EU und die ihr angehörenden Staaten mehr in ihre Infrastruktur und ihre wissenschaftlich-technologischen Fähigkeiten investieren müssen als bisher. Das wird nicht ohne Folgen für das Konsumtive bleiben, also für den Sozialstaat. Dann – und nur dann – werden die Europäer in der Lage sein, bei der Ausgestaltung der politischen und ökonomischen Ordnung des 21. Jahrhunderts eine Rolle zu spielen. Sonst sind sie Objekt der Anderen.