Langsam kriecht der Blechwurm in der Nachmittagshitze über die Save. Es staut sich. Flussaufwärts liegt Jasenovac, wo die faschistischen Ustaschen im Zweiten Weltkrieg Zehntausende Serben, Roma, Juden und unbotmäßige Kroaten ermordeten. Wie viele Opfer es genau waren, darum tobt zwischen Zagreb und Belgrad ein hässlicher Streit. Jenseits der Brücke beginnt Bosnien, wo die Vergangenheit ebenfalls nicht vergehen will.
Die gepanzerte Limousine, in die Valentin Inzko, kaum hat er mit seinem Privatwagen den Grenzposten passiert, umsteigen muss, erzählt davon. Sie und die sechs Cobra-Leute, die den Hohen Repräsentanten für Bosnien-Herzegowina bewachen, geben Zeugnis vom Übermaß an Geschichte und ihrem Missbrauch durch die Ideologen des Völkischen, an dem das verwundete, von Grabenkämpfen zwischen Serben, Kroaten und Bosniaken zerrissene Land ein Vierteljahrhundert nach dem Krieg noch immer leidet.
„Am Anfang war es ungewohnt, auf Schritt und Tritt begleitet zu werden“, erzählt Inzko auf der Fahrt nach Sarajevo. „Jetzt spüre ich es nicht mehr.“ 20 Morddrohungen hat er in den zwölf Jahren als Sonderbeauftragter erhalten. Einmal hatte ein serbischer Fanatiker bereits eine Pistole gekauft, um ihn am Sankt-Veitstag zu erschießen. „Wirklich schlimm war es, als mein Sohn bedroht wurde. Das hat mich fertiggemacht.“
Die Sonne sinkt immer tiefer und verschwindet hinter bewaldeten Hügeln. In der Republika Srpska, dem serbischen Landesteil, durch den die Strecke führt, beleben sich die Dörfer. Vor den Volkshäusern schaukeln serbische Trikoloren im Abendwind. Die Flaggen sollen Eigenstaatlichkeit suggerieren. Doch die bleibt eine Schimäre, solange die internationale Gemeinschaft, verkörpert durch den vor 25 Jahren zur Umsetzung des Friedensvertrags von Dayton installierten Hohen Repräsentanten, jede offene Sezession unterbindet.
Aber, so paradox es klingt, auf genau dieser Konstellation beruht die Macht der nationalistischen Scharfmacher: In einer souveränen Republika Srpska wäre der wie ein Landbaron herrschende Serbenführer Milorad Dodik wohl längst Geschichte. Doch die Attacken gegen den brüchigen Gesamtstaat und den Sonderbeauftragten sichern dem Meister der Provokation die Pfründe.
„Dodik hat mich als Monster, Viehhändler und Kriminellen verhöhnt“, sagt Inzko. Es ist ein Montag Ende Juni. Der Hohe Repräsentant empfängt in seinem von stacheldrahtbewehrten Mauern umgürteten Amtsgebäude an einer Ausfallstraße von Sarajevo. In seinem Büro stehen Umzugskartons. In ein paar Wochen wird er das Amt an den Deutschen Christian Schmidt übergeben. Was zu diesem Zeitpunkt kaum jemand ahnt, es wird ein Abgang mit Paukenschlag werden. Denn der davor in seiner Amtsausübung eher zurückhaltende Diplomat wird kurz vor Ende seines Mandats seine seit einem Jahrzehnt nicht mehr eingesetzten Sondervollmachten dazu nützen, die Leugnung des Völkermords von Srebrenica unter Strafe zu stellen.
Doch zu Sommerbeginn wägt Inzko das Für und Wider noch ab. Dass die Genozidleugner vom zum Vorsitzenden des Staatspräsidiums aufgerückten Dodik angeführt werden, sieht er gleichwohl als Fanal. „Es gibt keine schlechten Völker, auch nicht das serbische, es gibt auch keine Kollektivschuld, nur Einzeltäter“, sagt Inzko. Aber dass ganze Schulklassen vor Wandgemälden von Kriegsverbrechern für Fotos posierten, bedrücke ihn. Es gehe um Respekt vor den Opfern und ihren Angehörigen. Und es gehe darum, den Lügen Einhalt zu gebieten, die das Zusammenleben vergiften. „Der Krieg der Waffen ist lange vorbei, aber der Krieg der Worte um die Deutung des Krieges dauert an“, sagt Inzko. Jeder fühle sich in Bosnien als Opfer. Doch das entbinde niemanden von der Pflicht zur Wahrheit.
Mitarbeiter des Hohen Repräsentanten haben in Erfahrung gebracht, dass in der zur Republika Srpska gehörenden Stadt Foča im Osten des Landes ein Porträt von Ratko Mladić frisch an eine Wand gemalt wurde. Der vom Haager Tribunal verurteilte einstige General war einer der Hauptverantwortlichen für die im Krieg von serbischer Seite begangenen Verbrechen. Die Fahrt nach Foča führt zwar über löchrige Straßen, Inzko will sich am nächsten Tag trotzdem mit eigenen Augen ein Bild machen.
Davor besucht er den jüdischen Friedhof in den Hügeln von Sarajevo. Es ist Nachmittag. Das verwilderte Areal liegt verlassen da, viele Grabsteine sind zerborsten, an nicht wenigen sieht man Einschusslöcher. Sie sind die Relikte eines düsteren Kapitels in der Geschichte Bosniens. Vor dem Krieg war der Friedhof ein Treffpunkt für Liebespaare, doch im April 1992 schossen von hier aus Scharfschützen der Jugoslawischen Volksarmee auf die Bürger der belagerten Stadt. Inzko spaziert stumm die Gräber entlang, versucht da und dort einen verwitterten Namen zu entziffern. Viele der hier Bestatteten gehörten der vor dem Zweiten Weltkrieg blühenden sephardischen Gemeinde an, die vom Holocaust nahezu ausgelöscht wurde.
Im Rückblick wirken die stillen Minuten auf dem jüdischen Friedhof hoch über der Stadt fast wie eine Selbstvergewisserung des 72-Jährigen, dessen eigene Volksgruppe der Kärntner Slowenen einst ebenfalls Ziel des nationalsozialistischen Furors war.
Der Aufbruch nach Foča einen Tag später erfolgt in spürbarer Anspannung. Ein Kommando der Cobra fährt voraus, um die Lage zu erkunden. Das Wandgemälde befindet sich in einer Siedlung am Stadtrand. Weiter oben auf der staubigen Straße spielen Kinder. Von einem Balkon späht ein Mann im Unterhemd herab. Inzko springt aus dem Wagen, lässt sich mit dem Graffito als Beweisstück für den ihm übergeordneten internationalen Friedensimplementierungsrat ablichten. „Letztlich geht es darum, in was für einem Land die jungen Leute hier aufwachsen“, sagt er. „Ist es ein Staat, wo Kriegsverbrecher und ihre Taten verherrlicht werden, oder sollte es nicht doch ein Gemeinwesen sein, das die Würde jedes Einzelnen, auch jene der Toten achtet?“ Heilung der vom Krieg geschlagenen Wunden sei nur in letzterem möglich, meint er.
Für die Rückfahrt schlägt Inzko einen weiten Bogen über Višegrad. Er will die von Nobelpreisträger Ivo Andrić als Sinnbild für die wechselhafte Beziehung zwischen Orient und Okzident literarisch verewigte Brücke über die Drina sehen. Die Abendsonne taucht das steinerne Bauwerk in ein mildes Licht. In einem Gastgarten spielt ein Akkordeonist alte jugoslawische Volkslieder. Ein Mann mit kurz geschorenem Haar steuert auf Inzko zu. Die Cobra-Männer fahren hoch. „Wann setzen Sie Dodik ab?“, fragt der Fremde.
„Bosnien ist ein Land der gütigen Menschen, der vielen kleinen Nelson Mandelas“ sagt Inzko auf dem Heimweg. Leute wie der Unternehmer Hasan Ahmetlić, ein Moslem, der in Tešanj in Zentralbosnien eine katholische Kirche renovierte. Aber auch weniger Betuchte wie der Kupferschmied Hadži Nasir Jabučar, den Inzko in diesen letzten Junitagen ein letztes Mal in seinem winzigen Geschäft in der Bašcaršija, der Altstadt von Sarajevo aufsucht. Andächtig schlürfen die zwei Freunde ihren Kaffee. „Unser Schicksal ist es, mit Serben und Kroaten zusammenzuleben. Gott hat das so eingerichtet“, sagt der 65-jährige tiefgläubige Muslim. „Aber wir sollten anständiger zueinander sein, dann würde alles besser.“
Inzko nickt. „Die Menschen haben kein Problem miteinander“, sagt er. Nur von den Politikern würde das Trennende kultiviert. Die Herzlichkeit der einfachen Leute sei es auch, die er am meisten vermissen werde. Insgesamt 16 Jahre hat er zunächst als erster österreichischer Nachkriegsbotschafter und später dann als Hoher Repräsentant in Bosnien verbracht. „Der Abschied fällt mir schwer. Sarajevo ist mir zur zweiten Heimat geworden.“
Stefan Winkler aus Sarajevo