Herr Premierminister, Sie haben wiederholt davor gewarnt, dass eine weitere Verzögerung des Beginns der EU-Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien negative Folgen für die Stabilität und die Orientierung des Westbalkans haben kann. Erkennen die EU-Mitglieder die strategische Bedeutung für Europa nicht?

EDI RAMA: Ich glaube, dass diese strategische Bedeutung auch von der EU akzeptiert wird, die die Region als eine Region von strategischer Bedeutung betrachtet. Und natürlich sind sie in Bezug auf die öffentliche Meinung in dieser Region sehr sensibel für diesen Prozess. Insbesondere für Albanien, das eine ganz besondere Geschichte der Isolation und der barbarischen Diktatur hinter sich hat, ist die Beteiligung an der europäischen Familie mit vollen Rechten ein unersetzliches Ziel. In dieser Hinsicht haben die Verzögerungen, das Tauziehen und die Nichteinhaltung der Verpflichtungen der EU mit Sicherheit ihre negativen Folgen.

Österreich, Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Slowenien zählen zu den stärksten Befürwortern des Beginns von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien. Trotzdem ist der konkrete Beginn der Gespräche bereits zweimal verschoben worden, obwohl alle EU-Staaten im Frühling 2020 dafür gestimmt haben. Wird es nun Ende Juni doch dazu kommen? Was ist Ihre Einschätzung?

Es ist unmöglich, derzeit Vorhersagen zu machen, was die EU tun wird. Es ist leichter vorherzusagen, dass Österreich Fußballweltmeister wird, als was die EU tun wird. So haben wir eine starke Gruppe von Mitgliedern, die uns und den Beginn von Beitrittsverhandlungen unterstützt. Dazu zählen Österreich, Tschechien und Slowenien, die hier von ihren drei Außenministern vertreten wurden; sie sind seit Langem dafür, dass der formelle Verhandlungsprozess beginnen muss. Auf der anderen Seite gibt es einige andere Länder, die skeptisch sind, ungeachtet der Tatsache, dass die Entscheidung für den Beginn der Verhandlungen von allen Ländern getroffen wurde. Doch dieser Beginn ist blockiert, weil es keinen Konsens gibt.

Ein wichtiger Punkt, den auch EU und USA unterstützen, ist die regionale Zusammenarbeit der sechs Staaten am sogenannten Westbalkan. Dazu zählt das Projekt von Mini-Schengen, das eine Art Binnenmarkt in dieser Region schaffen soll; andererseits gibt es noch viele ungelöste Probleme, wie etwa das schwierige Verhältnis zwischen dem Kosovo und Serbien. Wie sehen Sie die Perspektive für eine stärkere regionale Zusammenarbeit?

Wir müssen sagen, dass der Balkan heute seine besten Tage erlebt, es gab in allen Aspekten noch nie solche Tage für die Region. Andererseits ist die heutige Zusammenarbeit weder ein Traum noch nur ein Ehrgeiz. Sie ist eine Tatsache in unserem täglichen Leben. Sicherlich gibt es Raum für eine Intensivierung dieser Zusammenarbeit; vor allem müssen wir uns darauf einigen, nicht darauf zu warten, alle unsere Probleme zu lösen, um zusammenzuarbeiten. Ich bin der festen Überzeugung, dass jedes Land zwar versuchen wird, Teil der vereinten europäischen Familie zu sein, wir aber unser Handeln intensivieren müssen. Wir müssen es ernst meinen, um die regionale Partnerschaft auf eine höhere Ebene zu bringen.

Bei der Pressekonferenz der Außenminister aus Österreich, Tschechien und Slowenien im Garten des albanischen Außenministeriums spazierte eine Schildkröte vor den Ministern im Gras. Als Bürgermeister von Tirana hatten Sie auch Schildkröten in Ihrem Büro, wie ich mich erinnern kann. An sich sind diese Tiere ein positives Symbol: Doch sind Sie gerade bei einer Pressekonferenz zur EU-Integration des Westbalkans nicht auch ein Symbol dafür, wie langsam diese EU-Integration vor sich geht und wie lange sie noch dauern wird?

Tatsächlich ist die Zahl zwei ein Zufall, weil es zwei davon gibt, weil die anderen beiden, die Sie gesehen haben und die noch leben, in meinem Büro des Parteichefs der sozialistischen Partei sind. Diese Symbolik stimmt mit diesem Moment überein, während Albanien und Nordmazedonien darauf warten, mit einem schnelleren Rhythmus als eine Schildkröte einzutreten, um in den formellen Verhandlungsprozess mit der EU einbezogen zu werden.