Die beiden ersten Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts waren für die EU durch vier große Krisen geprägt: die Eurokrise, die Migrationskrise, den Brexit und die Pandemie. Diese Krisen waren ein Stresstest auf die Krisenfestigkeit der Union. Dass die EU sie einigermaßen durchgestanden hat und unter dem Druck der von ihnen freigesetzten Zentrifugalkräfte nicht zerfallen ist, kann als Grund zu Zuversicht gesehen werden. Aber es ist kein Grund zu Sorglosigkeit. Denn mit Angela Merkel scheidet im Herbst jene Politikerin aus dem Amt, die in diesen Krisen wesentlich für den Zusammenhalt Europas gesorgt hat, und es ist kaum vorherzusagen, wer ihr darin nachfolgen wird.
Zugespitzt: Wird Deutschland auch in Zukunft eine Zentripetalkraft sein, die den Zentrifugaltendenzen in der EU entgegenwirkt? Oder wird es sich stärker mit sich selbst beschäftigen und seinen eigenen Interessen folgen? Es spricht vieles für die Fortschreibung des deutschen Investments in Europa als Lebensversicherung der EU – aber sicher ist das keineswegs.
Werfen wir einen Blick auf die Krisen der zurückliegenden 15 Jahre: Als Erstes auf die Eurokrise, die wesentlich aus der Überschuldung der Staatshaushalte in den Südstaaten der EU erwuchs. Diese Krise ist stillgestellt, aber nicht bewältigt. Sie ist aus den Medien verschwunden, aber spätestens wenn die ökonomischen und fiskalischen Folgen der Coronakrise bilanziert werden und man Programme zu deren Bewältigung auflegen wird, werden die Konflikte um die Disparitäten in der EU wieder da sein. Sie werden sich an der Frage entzünden, ob das 750-Milliarden-Projekt zur wirtschaftlichen Rekonstruktion der EU ein Durchbruch zur gemeinsamen Schuldenaufnahme war oder aber eine Ausnahme, die mit den Sonderbedingungen der Pandemie zu tun hatte.
Migrationsdruck
Das gilt in ähnlicher Weise für den Umgang mit dem Migrationsdruck aus den im Süden und Südosten angrenzenden Räumen. Der ist infolge des EU-Türkei-Abkommens, der erkennbaren Stabilisierung Libyens, des Abflauens des Bürgerkriegs in Syrien wohl auch pandemiebedingt zurückgegangen, aber er dürfte bald wieder anwachsen: durch den Rückzug des Westens aus Afghanistan, das Aufflammen neuer Kriege im Nahen Osten und nördlichen Afrika, durch den Klimawandel, durch eine unberechenbar gewordene Türkei etc. Und dann stellt sich erneut die Frage, welches Land welche Kontingente an Flüchtlingen aufnimmt und wie diejenigen, die das tun, sich gegenüber denen verhalten, die sich dem verweigern. Ist die Eurokrise ein Konflikt zwischen Norden und Süden Europas, so ist die Migrationskrise einer zwischen dem Westen und dem Osten der EU. Das sind die beiden Bruchstellen der Union, um die es schon bald wieder gehen wird. Hat in der Vergangenheit der Nationalpopulismus von beiden Krisen profitiert, so wird er in den nächsten Jahren deren Bearbeitung erschweren, wenn nicht unmöglich machen.
Am ehesten bewältigt ist die durch das Brexit-Votum der Briten entstandene Krise – erstens, weil sich die Briten eine Reihe von Problemen eingehandelt haben, mit denen fertigzuwerden sie Mühe haben, weil ihnen mit dem Machtwechsel in Washington der amerikanische Rückenwind fehlt und weil sie mit den Zentrifugalkräften im eigenen Land zu tun haben. Dass die Impfkampagne auf der Insel schneller in Gang kam als auf dem Kontinent, dürfte darüber schnell in Vergessenheit geraten. Wie die USA hat das Vereinigte Königreich von einem forcierten Egoismus und Impfstoffprotektionismus profitiert, den es so in der EU nicht gegeben hat. Die EU wird in Zukunft ihre eigenen Produktionslinien stärken, um für einen Raum mit 400 Millionen Menschen Vorsorge zu treffen, und das wird unter den sich entwickelnden protektionistischen Bedingungen sehr viel günstiger sein, als es für Briten ist. Zweitens hat bei den Nationalpopulisten auf dem Kontinent die Idee eines Austritts aus der EU an Attraktivität verloren. Der Brexit hat den Zusammenhalt Europas eher verstärkt als geschwächt, und das wird einen entschiedeneren Kurs gegenüber Ungarn und Polen als Provokateuren des demokratischen wie rechtsstaatlichen Selbstverständnisses der Europäer nach sich ziehen. Mit wohlwollender Unterstützung aus Washington wird man nach dem Ende der Ära Trump in Warschau und Budapest nicht rechnen können.
Bleiben das soziale Gefälle in der EU und die demografischen Probleme, in denen sich Europa seit Jahrzehnten befindet. Polen, Tschechien und die baltischen Staaten haben wirtschaftlich aufgeholt; Sorgenkinder sind die meisten Balkanstaaten, Bulgarien und Rumänien. Gleichzeitig ist man in vielen Staaten Europas auf Saisonarbeiter aus diesen Räumen angewiesen, um bestimmte Wirtschaftszweige am Leben zu halten. Daneben gibt es geopolitische Gründe, die weiche Südostflanke der EU vom Schwarzen Meer über die Ägäis bis ins östliche Mittelmeer zu stabilisieren.
Währenddessen bleiben die wirtschaftlichen Zentren Europas auf Zuwanderung angewiesen. Eine niedrige Geburtenrate wird durch Zuwanderung kompensiert. Das ist nicht neu. Wie im 19. Jahrhundert ist Europa seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zum Raum der Zuwanderung geworden. Eingliederung in den Arbeitsprozess, dazu reguläre Beschäftigungsverhältnisse sind der Schlüssel der Integration, zumal, wenn das für die Zugewanderten mit einer generationenübergreifenden gesellschaftlichen Aufstiegsperspektive verbunden ist. Der Schule, den Vereinen, der Zivilgesellschaft fällt hier eine zentrale Rolle zu. Dafür müssen die Menschen gewonnen werden. Der Abstieg Japans, das sich gegenüber Zuwanderung abgeschottet hat, kann als warnendes Beispiel gelten. Vitale Gesellschaften brauchen Innovation, und deren Träger sind oft dynamische Fremde, die auf Dauer keine Fremde bleiben wollen.
Bleibt zum Abschluss ein Blick auf die weltpolitische Entwicklung. Der Prozess der Globalisierung hat sich entschleunigt. Das Projekt einer weltpolitischen Ordnung, die durch internationale Institutionen bestimmt wird, ist gescheitert. Russland, China, aber auch die USA beharren auf ihren Souveränitätsansprüchen, sind an ihren eigenen Interessen orientiert. So werden wir wohl in eine Weltordnung gehen, die durch Interessensphären geprägt ist und in der es Peripherien gibt, die zu stabilisieren einem Zentrum obliegt. Die USA, China, Russland, wohl auch die EU und Indien werden Hauptakteure einer solchen Weltordnung sein. Dahinter wird sich eine zweite Reihe von Akteuren aufbauen, die von den großen Playern umworben wird. Konflikträume werden die Überschneidungsräume der großen Akteure werden und die Peripherien, wo Investitionen in Stabilität und Prosperität nicht sonderlich attraktiv, aber vonnöten sind, um gewaltige und unkontrollierbare Migration zu vermeiden.
Akteur oder Objekt?
Will die EU bei der Ausgestaltung dieser neuen Weltordnung Akteur und nicht Objekt sein, so muss sie sich auf diese doppelte Herausforderung vorbereiten. Einen Vorgeschmack geben Russland im Donbass, im Schwarzmeerraum und teilweise auf dem Balkan, China mit der Seidenstraßenstrategie in Süd- und Südosteuropa und die USA mit ihrer Vorstellung, die Europäer hätten der amerikanischen Politik gegenüber China zu folgen. Das sind gewaltige Herausforderungen, denen die Europäer nur gemeinsam und geschlossen gewachsen sind. Die beiden großen Brandherde sind der Raum, der wie ein Pfahl vom Kaukasus bis in den Westbalkan nach Europa ragt, und die gegenüberliegende Mittelmeerküste, also Nordafrika bis hin Sahelzone. Als ein auf Ex- wie Importe angewiesener Raum wird die Sicherheit der Seelinien für Europa lebenswichtig bleiben. Dafür müssen maritime Fähigkeiten bereitgestellt werden – erst recht nach dem Brexit. Ein kleiner Trost: Solche Herausforderungen können auch zusammenschweißen.
Herfried Münkler