Keine Nacht vergeht derzeit ohne neue Unruhen und Krawalle in Nordirland. Wenn die Dunkelheit über der Provinz hereinbricht, flackern schon die ersten Feuer hier und da auf dem Asphalt.

Pausenlos sind die weißen Land Rover der Polizei unterwegs, um besetzte Straßen zu räumen und Unruhestifter abzudrängen. Wohin sie kommen, empfängt sie ein zorniger Hagel von Backsteinen und Brandsätzen, Molotow-Cocktails und Feuerwerkskörpern. Seit Karfreitag schon geht das so. Nordirland kann keine Ruhe finden. Auch für die kommende Woche sind ähnliche „Aktionen“ geplant.

Begonnen hatte das Ganze mit sporadischen Ausschreitungen an mehreren Orten Nordirlands, jeweils in protestantischen Working-Class-Bezirken. Überwiegend junge Leute, manchmal noch Kinder, steckten johlend Autos in Brand und schleuderten Benzinbomben gegen die Polizei.

Mindestens 74 Polizisten sollen bereits verwundet worden sein, bei diesen Zusammenstössen. „Seit Jahren“, meinte Vize-Polizeichef Jonathan Roberts deprimiert, „haben wir so etwas in Belfast oder sonstwo in Nordirland nicht mehr gesehen.“ Nicht einmal der Tod Prinz Philips am Freitag konnte die Krawalle ganz ersticken – obwohl besorgte Loyalisten „eine Pause“ anmahnten für die Dauer der Trauerzeit.

Ungläubig haben viele Nordiren, die an die relativ friedlichen Zustände seit dem Zustandekommen des Karfreitags-Abkommens von 1998 gewöhnt waren, die Bilder dieser Krawalle allabendlich auf ihren Bildschirmen verfolgt.

Was sie sahen, waren vermummte Teenager, die in Tankstellen Kanister mit Benzin füllten, um diese hernach als Kampfstoff einzusetzen; einen zur Explosion gebrachten Bus, der die Strasse hinunter rollte; einen örtlichen Fotografen, der attackiert wurde und dem man die Kamera kaputt machte.

In der Nacht auf Freitag fuhr die Polizei Wasserwerfer auf und ging mit scharfen Hunden gegen Teilnehmer der Ausschreitungen vor. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Schwerpunkt der Krawalle auf die sogenannte „Peace Line“ in Belfast verlegt.

"Peace Line"

Die „Peace Line“ ist ein von Toren durchsetztes Geflecht von Mauern in der nordirischen Hauptstadt, das irisch-katholische und britisch-protestantische Wohngebiete trennt und so direkte Konfrontation zu verhindern sucht.

Vor allem im alten Belfaster „Grenzgebiet“ zwischen Shankill und Springfield Road, das während der Troubles endloses Leid gesehen hat, entzündeten sich wütende Gefechte. Dass nun Jugendliche beider Lager sich mit Brandsätzen bewerfen, über die Mauer hinweg oder durch aufgesprengte Tore hindurch, verstärkt die Unruhe in der Provinz enorm.

Selbst am Samstagmorgen, 24 Stunden nach dem Tod des Gatten der britischen Monarchin drüben in England, stand man an mehreren Stellen Nordirlands wieder vor Autowracks, Trümmern und verkohlten Mülltonnen. In der Nacht hatten junge Rowdies beider Konfessionen in zwei Stadtteilen Belfasts erneut zugeschlagen.

In Colraine, an der Nordküste der Provinz, errichteten maskierte Loyalisten eine Strassenbarrikade und liessen sie in Flammen aufgehen. Dabei habe man geglaubt, „dass wir solche Szenen hinter uns gelassen hatten“, klagte Nordirlands (längst gemischt-konfessioneller) Polizeiverband.

Politik hat brandgefährliche Situation verschlafen

Erst sehr langsam ist die Politik in dieser brandgefährlichen Krise aufgewacht. Mehrere Tage dauerte es, bis Nordirland-Minister Brandon Lewis es über sich brachte, von London nach Belfast zu fliegen, um für eine „Beruhigung der Lage“ zu sorgen.

Premierminister Boris Johnson zeigte sich „besorgt“ und „betroffen“, während der irische Regierungschef Micheál Martin dazu riet, Vertreter beider Regierungen und aller maßgeblichen Parteien gemäß dem Karfreitags-Abkommen zusammenzubringen – und das möglichst schnell.

Notgedrungen einigten sich die Führungen der Unionisten und der Republikaner-Partei Sinn Fein in Belfast auf einen gemeinsamen Appell, der zur „Rückkehr zu Ruhe und Ordnung“ mahnte im Land.

Und Nordirlands Regierungschefin Arlene Foster, die Vorsitzende der Demokratischen Unionisten (DUP), verkündete, den jungen Unruhestiftern sei gar nicht wirklich an Protesten, sondern nur an Vandalismus gelegen: „Diese Aktionen haben nichts mit Unionismus oder Loyalismus zu tun.“

Unterdessen musste sich Foster von ihren Kritikern vorhalten lassen, dass sie mit scharfer Rhetorik und dem jüngsten Drängen auf Vertragsbruch in Sachen Brexit die Gemüter erst richtig aufgeheizt hatte.

Nordirlands Justizministerin Naomi Long, die der um Ausgleich bemühten Alliance Party angehört, warf zugleich Boris Johnson vor, durch seine  „Unehrlichkeit“ beigetragen zu haben zur gefährlichen Frustration in der Provinz.

Die Anschuldigung bezog sich darauf, dass Johnson Nordirlands Unionisten vor Abschluss seines Brexit-Vertrags mit Brüssel noch feierlich versichert hatte, eine „Grenze in der Irischen See“, die Kontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland erfordere, werde es nicht geben.

Tatsächlich nahm der Tory-Premier diese neue Zollgrenze stillschweigend in Kauf, um „seinen“ Brexit nur irgendwie „über die Bühne zu bringen“. Seither hat sich nun erwiesen, dass diese Selbst-Verpflichtung Londons zu allerlei Problemen bei der Belieferung Nordirlands mit Waren aus England, Schottland und Wales geführt hat.

Schlichtweg „betrogen“ habe man die Provinz, klagen viele Unionisten mittlerweile. Schwierigkeiten bereitet Fosters DUP freilich, dass sie sich mit ihrem Einsatz für einen harten Brexit, dessen Folgen nun offenbar werden, in keine gute Lage manövriert hat: Immerhin stimmte die Mehrheit der Nordiren 2016 für den Verbleib in der EU.

Kompliziert wird die Situation dadurch, dass sich Sinn Fein, die Partei der irischen Republikaner, voriges Jahr bei einem Begräbnis für einen der ihren in Missachtung von Covid-Restriktionen Freiheiten herausnahm, die nun nicht weiter geahndet werden sollen.

„Sind wir hier nur noch Bürger zweiter Klasse?“ murren viele der jungen Leute aus dem Lager, das fast hundert Jahre lang dominierende Kraft war im irischen Norden. Auch Protestanten, die alle Gewalt verurteilen, beschleicht immer mehr das Gefühl, dass sie in der Folge des Brexit unweigerlich auf dem Weg zur irischen Einheit sind.