Man braucht den Mut, volles Risiko zu gehen“, sagt Annalena Baerbock und legt los: „Anlauf nehmen, Salto vorwärts, halbe Schraube auf der ersten Mini-Sprungfläche, Doppelsalto auf die Matte.“ Die deutsche Grünen-Chefin spricht nicht über parteiinterne Programmdebatten, sondern über Leistungssport. Im Trampolinspringen brachte es Baerbock als Juniorin bis zu Bronze bei Meisterschaften. Die Frau ist schwindelfrei, viele trauen ihr alles zu.


Deutschlands Grüne ziehen erstmals mit einer Kanzlerkandidatur in eine Bundestagswahl. Das blieb selbst Übervater Joschka Fischer verwehrt. Am 19. April fällt die Entscheidung. Lange galt Parteichef Robert Habeck als Favorit. Nun sprechen alle nur noch über die Mit-Vorsitzende. Habeck hat die Leichtigkeit verloren. „Ist er noch er?“, fragte die „Zeit“.

Erste Risse

Der Tag, an dem das Bild von Habeck erste Risse zeigte, lässt sich gut bestimmen: Dreikönig 2019. Damals löschte Habeck sein Twitter-Profil. Ein unglückliches Video zur Lage der Demokratie in Thüringen hatte Empörung ausgelöst. Habeck hatte genug vom emotionalen Politikstil mit doppelten Ausrufezeichen. Zurück blieb eine verdutzte Öffentlichkeit und die Erkenntnis: Der sonst so Besonnene kann auch anders.


Habeck, 51, ist seit 2018 Parteichef. In die professionelle Politik drängte es ihn lange nicht. Stets wurde er gebeten. Der promovierte Philosoph hatte ein eigenes Leben. Zusammen mit seiner Frau Andrea Paluch schrieb er Bücher im eigenen Haus in Flensburg mit Blick auf die dänische Grenze. Erst 2012 wechselte Habeck als Umweltminister in Schleswig-Holstein das Fach. „Ich rede mir ein, es ist nicht schlimm, eine Entscheidung zu treffen. Das schließt eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem Scheitern ein“, beschrieb Habeck seinen Stil. Politik war für ihn lange nur eine von vielen Möglichkeiten. Frei nach Max Weber: Habeck versteht Politik als Berufung.

Baerbock ist anders

Baerbock, 40, ist da anders. Auch sie hatte ein eigenes Leben. Als Leistungssportlerin. „Im letzten Durchgang von Gold auf Bronze zu rutschen, war für mich ein Weltuntergang“, erzählte sie. Die Frau will etwas und ist standfest. Baerbock betreibt Politik als Beruf.


Seit drei Jahren führt das Duo die Grünen. Gemeinsam. Erfolgreich beendeten sie fruchtlose Fundi-Realo-Debatten um fleischlose Veggie-Days und höhere Spritpreise und etablierten die Grünen als ökoliberale Volkspartei der Mitte. Zusammen führten sie die Partei in ungeahnte Umfragehöhen. Nun ist Schluss mit den Gemeinsamkeiten. Die Grünen ziehen mit einer Kanzlerkandidatur in die Wahl am 26. September. Da kann es nur eine(n) geben. Er oder sie? So lautete lange die Frage.
Denn früher war Baerbock nur die Frau an Habecks Seite. Das hat sich völlig geändert. Der Favorit strauchelt. So stellt sich die Frage jetzt neu: Sie oder er?


Politisch trennt beide wenig. Auch in Koalitionsfragen. Schwarz-Grün, Jamaika – wie es eben kommt. Rot-Rot-Grün? Eher unwahrscheinlich! Klimaschutz und grüne Transformation, heißt die Agenda. Von „Klimawohlstand“ ist im Wahlprogramm die Rede. Die Grünen lernten kräftig dazu unter der Führung des Duos. Klimawende geht nur mit der Bevölkerung, nicht gegen sie. Die Pandemie legt den Reformstau nach den Merkel-Jahren ohnehin schonungslos offen.


Vielleicht ist Habeck unnachgiebiger. Vielleicht ist Baerbock moderierender. Als Chefs haben sie sich ein Zimmer geteilt. Im Kanzleramt könnte nur eine(r) sitzen. „Da kommt sicher auch ein kleiner Stich ins Herz“, sagte Baerbock über den Tag der Entscheidung. Habeck gestand, er orientiere sich neuerdings an Tennisstar Novak Djokovic: „Wenn mich andere auspfeifen, höre ich Applaus.“


Habeck kämpft zum ersten Mal wirklich um ein politisches Amt. Seine Nominierung wäre längst eine Sensation. Die Entfernung von seiner Wohnung zum Kanzleramt beträgt vier S-Bahn-Stationen. Stand jetzt ist der Weg weit. Das Wichtigste ist die Landung. Baerbock kennt das vom Trampolin. Was sagte sie über das Ende jeder Übung? „Dann steht man wieder. Hoffentlich.“