In Italien ist man gerade durchaus stolz. Die Politik befindet sich in ihrer größten Krise seit Jahren, eine Pandemie zwingt das Land und die Welt in die Knie. Aber in Rom hat Staatspräsident Sergio Matterellanach den gescheiterten Verhandlungen zur Bildung einer Regierung den Bilderbuch-Kandidaten für die Lösung der Krise aus dem Hut gezaubert.

Am Mittwoch nahm Mario Draghi das Mandat zur Bildung einer Regierung an. Selten hat der überstrapazierte Kosename „Super Mario“ auf den ehemaligen Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) so gut gepasst wie jetzt. Wenn es einer schaffen kann, den außer Kontrolle geratenen parlamentarischen Betrieb in Rom und die Pandemie mit ihren Folgen zu bändigen, dann Draghi, so heißt es aller Orten in Rom. Es handelte sich bei ihm um die „angesehenste Ressource des Landes“, schrieb der "Corriere della Sera".

Wie der Beiname implizieren auch die Vorschusslorbeeren einen unangenehmen Nebeneffekt. Die Messlatte für den als Retter fast schon vergötterten Draghi liegt hoch. Der Ministerpräsident in spe soll die Impfkampagne koordinieren, die Wirtschaft wieder in Schwung bringen, die milliardenschweren EU-Hilfen in die richtigen Bahnen leiten und vor allem die zerstrittene Politik in Rom hinter sich versammeln und einen. Letzteres dürfte die eigentliche Herkulesaufgabe für den 73-Jährigen werden. Nach seinem Zusammentreffen mit dem Staatspräsidenten am Mittwoch machte Draghi einen aufgeräumten Eindruck, er lächelte sogar charmant, als wolle er signalisieren: „Macht Euch keine Sorgen, das schaffen wir auch noch!“

Früh Vollwaise

Bereits als 15-Jähriger wurde Draghi Waise, seine Eltern starben kurz hintereinander. Früh musste der Jesuiten-Schüler Verantwortung übernehmen. Mario kümmerte sich um seine beiden jüngeren Geschwister. Ein weiteres traumatisches Erlebnis war der Verlust großer Teile des Familienerbes in den 1970er Jahren durch die Abwertung der italienischen Lira. Kein Wunder, dass so jemand Notenbanker und Fachmann für Währungs- und Finanzfragen wird. Seine Doktorarbeit am Massachusetts Institute of Technology (MIT) befasste sich unter anderem mit den theoretischen Grundlagen der Währungsabwertung. Von 1984 an war Draghi sechs Jahre lang einer von 25 Exekutiv-Direktoren der Weltbank. Anschließend bekleidete er zehn Jahre lang den Posten des Generaldirektors im Schatzministerium in Rom und bereitete dort den Weg für Privatisierungen und Italiens Euro-Beitritt. 

Goldman Sachs

Nach einer Zwischenstation bei der US-Investmentbank Goldman Sachs in London wurde Draghi 2005 Chef der italienischen Notenbank, die unter seiner Führung erstmals Bankenfusionen, aber auch Filialschließungen forcierte. Seine Mitarbeiter zeigten sich beeindruckt vom Modernisierungswillen und Pragmatismus ihres Chefs. Als die verstaubte Institution dem Gouverneur keinen Laptop bewilligen wollte, ließ sich Draghi kurzerhand einen von seinem Sohn organisieren. Mit seiner Frau Serena lebt der Ex-EZB-Chef seit 54 Jahren zusammen, das Paar hat zwei Kinder und zwei Enkelkinder.

Der reserviert auftretende Draghi pflegt neben seinem katholischen Credo eine Anhängerschaft für den AS Rom. Außerdem hat er eine Schwäche für Golfspielen, Bergsteigen und sein Lieblingsgericht abbacchio al forno, Lammbraten, den er am Liebsten im Stammlokal im römischen Parioli-Viertel verspeist.

International bekannt wurde Draghi als Chef der italienischen Notenbank von 2011 bis 2019. Seine Niedrigzinspolitik stieß insbesondere in Deutschland auf Kritik, ebenso seine Maßnahmen gegen die Spekulation der Finanzmärkte. Der von Draghi initiierte massenhafte Aufkauf von Staatsanleihen gefährdeter Staaten wurde in Berlin kritisiert und in Italien gefeiert. In den Lehrbüchern ist heute vom „Draghi-Effekt“ die Rede, dazu zählt auch die Ankündigung, als EZB-Chef alle notwendigen Schritte zu unternehmen, um den Euro gegen die Spekulation der Märkte zu verteidigen („whatever it takes“).

Nun soll der „Draghi-Effekt“ in den Untiefen der römischen Politik seine Wirkung entfalten. Ob das gelingt, ist die große Frage. Denn die Stärke des 73-Jährigen ist zugleich seine Achillesferse. Er ist Kenner des Systems und dessen Ausdruck. Für die Populisten im römischen Parlament ist Draghi ein gefundenes Fressen.