Die Grenze zwischen Glauben und Aberglauben ist ein schmaler Grat. In Neapel ist sie beim sogenannten Blutwunder von San Gennaro, dem Heiligen Januarius, besonders gut zu beobachten. Dreimal im Jahr soll sich die dunkelrote Masse in einer im Dom aufbewahrten Ampulle, von der es heißt, sie enthalte das Blut des Heiligen, wie auf Bestellung verflüssigen. Normalerweise geschieht das tatsächlich und aus Gründen, die bislang auch Wissenschaftler nicht einleuchtend erklären konnten. An diesem Mittwoch, dem 16. Dezember, also dem Tag, an dem Neapel dem Wunder von 1631 gedenkt, als Lavamassen vom Vesuv auf die Stadt herunterflossen und nur im letzten Moment von der Geisteshand des Schutzpatrons der Stadt gestoppt werden konnten, sollte sich Gennaros Märtyrer-Blut wieder verflüssigen. Doch das Wunder trat diesmal nicht ein. Das Blut blieb fest.

Das hat Folgen in einer Stadt, die wie keine andere in Italien ihren Wunderglauben pflegt. Es gibt Menschen in Neapel, die beten zu einer Locke des in diesem Jahr verstorbenen und einst beim SSC Neapel beschäftigten Fußballidols Diego Armando Maradona. Das Blut des Heiligen ist eine noch ernstere Sache. Auch wenn die katholische Kirche das Wunder offiziell nicht anerkennen mag, muss der neue Erzbischof der Stadt bei seiner Amtsübernahme traditionell so lange vor der Ampulle kniend beten, bis das Blut sprudelt. Und es sprudelte bisher immer. Was für Ungemach bedeutet es also, wenn ausgerechnet im Jahr der Corona-Pandemie, die Italien bislang übel mitgespielt hat, San Gennaro sein Blutwunder versagt?

Böses Omen

Erzbischof Crescenzio Sepe, der es am Mittwochabend im Dom von Neapel mit Stoßgebeten versuchte, spielte das in der Stadt als böses Omen wahrgenommene Vorzeichen herunter. „Auch wenn das Blut sich nicht verflüssigt, bedeutet das nicht gleich irgendetwas“, sagte er. Der Schutzpatron, der nach einer anderen Tradition als Hermaphrodit verehrt wurde, werde jeden Stadtbewohner dennoch vom Himmel aus segnen. Doch die wohlgemeinten Worte des Kardinals kamen nicht an beim Volk. „Das schreckliche Jahr 2020 geht ohne die Verflüssigung zu Ende“, klagte die Lokalzeitung Il Mattino. „Das letzte mal, dass das Wunder nicht vollbracht wurde, war 2016, aber keiner hat es damals bemerkt“, schrieb der Corriere del Mezzogiorno. „Heute sind andere Zeiten“, hieß es.

Der Erzpriester Vincenzo De Gregorio, der die Ampulle mehrmals am Tag flehentlich ansah und schüttelte, monierte, dass dieses Jahr mehr Journalisten zum (ausbleibenden) Blutwunder in den Dom gekommen seien als Gläubige. Das war angesichts der etwa 200 Betenden im Dom übertrieben, aber eben doch eine deutliche Spitze gegen die auch in Neapel langsam aber sicher fortschreitende Säkularisierung. Doch während sich zu den Terminen Anfang Mai und am 19. September, dem Gedenktag San Gennaros, unter normalen Umständen Tausende drängeln, war es diesmal auch wegen Corona eher leer in der Kathedrale. Die Frage, die nun die Neapolitaner umtreibt, ist, ob das Blutwunder ausblieb angesichts der Zustände durch Corona im ganzen Land oder ob das Schlimmste für Neapel erst noch zu erwarten ist. „Gnade für diese Stadt“, beteten die alten Frauen murmelnd in der Kirche.

Erste Zeichen

Am Mittwochabend hatte der SSC Neapel das Spitzenspiel gegen Inter Mailand mit 0:1 verloren, das kam zum Unglück hinzu. Der Tod seines Idols Maradona hatte Neapel Ende November getroffen, aber vor allem natürlich die Corona-Pandemie, die im ganzen Land bereits 67 000 Todesopfer gefordert, den italienischen Süden bislang aber eher verschont hat. Kampaniens Gouverneur Vincenzo de Luca bemängelte am Mittwoch, die Region um Neapel bekäme vom Zentralstaat nicht genügend Impfdosen zur Verfügung gestellt, auch die EU-Hilfsgelder seien ungerechterweise vor allem für Projekte in Norditalien bestimmt.

Sind das die bösen Vorzeichen, auf die das ausgebliebene Blutwunder hinweist? Kenner weisen darauf hin, dass die mangelnde Verflüssigung in der Vergangenheit mit dramatischen Ereignissen zusammentraf, in jüngerer Zeit mit einem Cholera-Ausbruch 1973 sowie mit dem Irpinia-Erdbeben 1980. Neapels Bürgermeister Luigi De Magistris reagierte pragmatisch. Der 16. Dezember sei nicht entscheidend, wichtig sei, dass das Blut sich am Gedenktag des Stadtpatrons am 19. September verflüssige. „Da wurde es sofort flüssig“, erinnerte De Magistris. „Das Jahr 2021 kann also nur besser werden!“ Neapel ist abergläubisch und manchmal auch einfach pragmatisch.