Ein Jahrzehnt ist es her, dass der Millionen-Jubel vom Boulevard Habib Bourguiba in Tunis über den Tahrir in Kairo bis an die Corniche von Bengasi zog. Fasziniert verfolgte die Welt, wie ein arabisches Volk nach dem anderen mit heroischem Mut versuchte, seinen Diktator abzuschütteln. Ins Rollen kam das kollektive Aufbegehren am 17. Dezember 2010 in Tunesien, ausgelöst durch den Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, der sich aus Verzweiflung anzündete und drei Wochen später starb. „Wer wissen will, wie Hoffnung aussieht, der schaue sich die Straßen Ägyptens an“, jubelte damals die bekannte ägyptische Schriftstellerin Ahdaf Soueif.
Zehn Jahre später ist alle Euphorie verflogen. Aus der Riege der repressiven Staaten ist eine Achse der scheiternden Staaten geworden, ein Niedergang, den die Corona-Pandemie zusätzlich beschleunigt. Der katalytische Effekt des Arabischen Frühlings hat die Zerrüttung nur weiter vertieft. „Die gesamte Region ist im Krieg gegen sich selbst, sie ist der kranke Mann der Welt“, urteilte der libanesische Politologe Paul Salem, Chef des „Middle East Institute“ in Washington.
Im Zentrum des Fiaskos steht der „autoritäre Gesellschaftsvertrag“, mit dem die Autokraten ihre Bevölkerung seit Jahrzehnten gefügig halten. Dieser basiert auf dem im Nahen Osten typischen Rentierstaat, der seine nationalen Einkünfte nicht primär aus einer innovativen mittelständischen Wirtschaft und einer breit gefächerten Industrieproduktion generiert, sondern aus Bodenschätzen wie Öl, Gas und Phosphat, aus Immobiliengeschäften und Devisentransfers durch Landsleute im Ausland sowie aus Finanzhilfen westlicher Geberländer.
Das Monopol bei der Verteilung der Mittel haben adelige Dynastien oder mafiose Kartelle aus Politikern, Generälen und Oligarchen. Die Masse der Bevölkerung dagegen geht leer aus, zwei Drittel der 400 Millionen Araber leben in prekären Verhältnissen. Ihren fetten Eliten dagegen fehlt jedes Bewusstsein für das öffentliche Wohl.
Der autoritäre Staat wirbt um die Loyalität seiner Bürger nicht durch ein offenes gesellschaftliches Klima und Chancen für echte politische Mitarbeit. Seine Machthaber erkaufen sich die Gefolgschaft durch staatliche Wohltaten – flächendeckende Subventionen für Brot, Gas, Strom und Benzin sowie absurde Jobzahlen in extrem aufgeblähten öffentlichen Diensten. Wer nicht spurt, dem schicken sie ihren überdimensionierten Polizei- und Sicherheitsapparat auf den Hals.
Diese seit Generationen praktizierte Methodik überfordert längst die Finanzkraft sämtlicher arabischer Staaten, die alle mit chronisch maroder Wirtschaft und sinkenden Ölpreisen, mit hoher Arbeitslosigkeit und schnell wachsenden Bevölkerungszahlen zu kämpfen haben. Die meisten Regime verbrauchen heutzutage zwei Drittel und mehr ihrer Etats für Subventionen, öffentlichen Dienst, Sicherheitsapparate und Schuldzinsen. Investitionen dagegen verkommen zum Rinnsal.
Diese trübe Bilanz zieht auch Europas Nahost- und Nordafrikapolitik in Zweifel. Wie umgehen mit einer Nachbarregion, die Unsummen an Entwicklungsgeldern einstreicht, deren Regime aber noch nie einen ernsthaften Willen zeigten, ihre Völker am Geschehen zu beteiligen und deren Rechte zu achten? Offenbar fördern die Gaben der Industrienationen nicht soziale Gerechtigkeit und verantwortliches Regierungshandeln, sondern zementieren die herkömmlichen „autoritären Gesellschaftsverträge“.
Die blinde Politik des Westens
Die gleiche Wirkung haben die exzessiven Rüstungsgeschäfte Europas und der USA in der Region, in der fünf Prozent der Weltbevölkerung leben, die aber 35 Prozent aller Waffen kauft – mit absurden Folgen, wie Ägypten zeigt. Der Westen versorgt das Land trotz brutalster Tyrannei unverdrossen mit großzügigen Haushaltszuschüssen und Infrastrukturhilfen, obwohl das Regime von Abdel Fattah al-Sisi seit 2015 die händeringend für das eigene Volk benötigten Ressourcen als drittgrößter Waffenkäufer der Welt vergeudet.
In Tunesien sorgte der unkoordinierte Geldsegen der EU dafür, dass die politische Klasse bis heute kaum Motivation verspürt, dringend nötige Reformen anzupacken. Libanons Staatsmafia rührt selbst nach der Beiruter Hafenexplosion keinen Finger, weil sie darauf pokert, dass Brüssel am Ende doch die Milliarden locker macht, um einen gescheiterten Staat abzuwenden. Und so graben sich zehn Jahre nach dem Arabischen Frühling Machtmissbrauch und Misere im Nahen Osten immer tiefer ein.
unserem Korrespondenten Martin Gehlen aus Tunis