Eine nasse Dezemberkälte hängt über der Stadt. In der Nacht sind ein paar Schneeflocken gefallen und wieder getaut. Die Steine vor dem Mahnmal sind noch feucht. Ist es statthaft, es auszuprobieren und niederzuknien? Um zu spüren, wie es sich damals wohl angefühlt haben mag für Willy Brandt: auf kaltem, hartem Grund, in dem Schmutz, den Stiefel und Straßenschuhe auf den Stufen hinterlassen haben. Sie führen hinauf zu einer elf Meter hohen Stele mit Bronzerelief. Die Skulpturengruppe zeigt die Helden des Warschauer Ghettos. Im April 1943 stürzten sich die eingekerkerten Bewohner lieber in einen aussichtslosen Aufstand, als sich weiter gewaltsam abtransportieren zu lassen, von der Rampe am sogenannten Umschlagplatz, als wären sie Stückgut. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die SS bereits 300.000 Menschen aus dem Ghetto deportiert und ermordet, meist im Vernichtungslager Treblinka.

Man vergibt sich doch nichts, denke ich, als kniender Deutscher, solange man sich dem Geist der Geste verpflichtet fühlt. Oder wäre das eine Anmaßung? „Ich konnte nichts anderes tun, als dieses Zeichen zu setzen: Ich bitte für mein Volk um Vergebung.“ So hat es Brandt formuliert, im Nachhinein. Der Kanzler hat seinen welthistorischen „Kniefall von Warschau“ am 7. Dezember 1970 selbst ausgedeutet. In seinen Memoiren schreibt er: „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last Millionen Ermordeter tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“ Den Rest erzählte sein Vertrauter Egon Bahr, der Stratege der Neuen Ostpolitik, der die Idee vom Wandel durch Annäherung hatte. „Unsinn, es war nicht geplant“, beteuerte Bahr ein ums andere Mal: „Es war eine spontane Eingebung.“

Langer Streit über Ostpolitik

Darüber hat man lange gestritten in Deutschland West. Ob alles kalkuliert war, eine politische Showeinlage. Oder ob der Kanzler, von seinen Emotionen übermannt, unwillkürlich niedersank auf die harten, nasskalten Stufen. Die letzte Wahrheit nahm Brandt 1992 mit ins Grab. Eingeräumt hat er, dass ihn damals schon im Voraus der Drang quälte, in Warschau ein Zeichen setzen zu müssen. Fünfzig Jahre nach dem Kniefall wirken diese Debatten von einst eher befremdlich. Im Rückblick scheint alles sonnenklar: Es war das Zusammenspiel von Adenauerscher Westbindung und Brandtscher Ostpolitik, das den Erfolg der Bundesrepublik ausmachte und den Weg zur Wiedervereinigung ebnete. Damals jedoch, nach Brandts Amtsantritt 1969, herrschte noch Kalter Krieg. Auch in Bonn. CDU und CSU warfen dem SPD-Kanzler vor, die Einheit Deutschlands zu opfern und die ehemaligen Ostgebiete gleich mit.

Willy Brandts Kniefall in Warschau
Willy Brandts Kniefall in Warschau © (c) dpa (-)

„Volksverräter Willy Brandt ‒ raus aus unserm Vaterland“, war auf Protestplakaten zu lesen. Auf den Straßen machten die Vertriebenen mobil. Zwölf Millionen Deutsche hatten 1945 ihre Heimat im Osten verloren, als Folge des Vernichtungskrieges, den ihre eigene Führung entfesselt hatte. Brandt beharrte darauf: „Wir müssen zu einem Miteinander von West und Ost kommen statt zu einem Nebeneinander.“ Die friedliche Koexistenz feindlich gesinnter Systeme war ihm nicht genug. Um seinen Worten Taten folgen zu lassen, reiste er im Dezember 1970 als erster Bundeskanzler nach Warschau. Fünfundzwanzig Jahre nach Kriegsende war die Stadt, die von den Deutschen 1944 planmäßig dem Erdboden gleichgemacht worden war, kein sehr einladender Ort. Im Stadtteil Praga stehen bis heute Häuser, die von Einschusslöchern übersät sind. Damals dominierte vor allem das Grau realsozialistischer Plattenbauten.

Warschauer Vertrag unterschrieben

Brandt hatte ein Schriftstück im Gepäck, mit dem er Trostlosigkeit und Feindschaft überwinden wollte. Gewaltverzicht, Aufnahme diplomatischer Beziehungen und die Anerkennung des Status quo waren die zentralen Prinzipien des Dokuments. Es orientierte sich an dem bereits im Sommer 1970 geschlossenen Moskauer Vertrag mit der Sowjetunion. Zwei Jahre später ergänzte der Grundlagenvertrag zwischen BRD und DDR den Reigen jener Ost-West-Abkommen, die auf Wandel durch Annäherung zielten. Der Warschauer Vertrag allerdings war von besonderer historischer Tragweite, denn er bestätigte die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze. Eine endgültige Regelung sollte zwar einer Friedenslösung vorbehalten bleiben. Das änderte aber nichts daran, dass nach der DDR auch die BRD den Verlust der ehemaligen deutschen Ostgebiete faktisch akzeptierte.

Für die kommunistische Führung in Warschau war der Vertrag deshalb von enormer Bedeutung. Doch Parteichef Wladyslaw Gomulka erhoffte sich noch sehr viel mehr. Die im Abkommen als Ziel formulierte „umfassende Entwicklung der Beziehungen“ zur Bundesrepublik sollte helfen, den Unmut im eigenen Land zu bekämpfen. Denn die realsozialistische Wirtschaft kam nur schwer in Schwung, und viele der katholisch geprägten, freiheitsliebenden Polen wollten sich nicht mit sowjetkommunistischer Fremdherrschaft abfinden. Und genau deshalb wurde Brandts Kniefall für Gomulka zum größten anzunehmenden Unfall. Nur eine Woche nach dem Kanzlerbesuch brachen in Danzig, Stettin und anderen polnischen Städten Massenunruhen aus. Mit dabei war ein gewisser Lech Walesa, der spätere Solidarnosc-Führer. Gomulka ließ prügeln und schießen. Rund 90 Menschen starben, mehr als tausend wurden verletzt. Das Politbüro zwang den Parteichef am 19. Dezember zum Rücktritt.

Gomolkas Problem

Wegen Brandt? Zumindest erfüllte der Kanzlerbesuch nicht die großen Hoffnungen Gomulkas. „Er wollte den Vertrag in den Mittelpunkt rücken, nichts sonst“, erklärt Agnieszka Lada, die Vizedirektorin des Deutschen Polen-Instituts. Aber dann war da plötzlich diese Szene vor dem Ghetto-Mahnmal, hier in Egon Bahrs Worten: „Ich hatte mich etwas im Hintergrund gehalten und konnte nichts sehen. Doch auf einmal wurde es mucksmäuschenstill und irgendjemand raunte: Er kniet, er kniet ...“ Nur warum und für wen? Das waren die Fragen, die man sich in Polen sofort stellte. „War die Geste an die Juden gerichtet, eine Bitte um Vergebung für den Holocaust, ging es um ein Symbol für die gesamte Ostpolitik oder um ein umfassendes Bekenntnis zur deutschen Schuld und eine Bitte um Versöhnung, die sich an alle NS-Opfer richtete?“ So formuliert es Politikwissenschaftlerin Lada und verweist auf den historischen Kontext, der die Lage für Gomulka weiter erschwerte.

1968 hatte die kommunistische Führung eine antisemtische Kampagne lanciert, weil sie in jüdischen Intellektuellen „Volksfeinde“ sah. Zehntausende polnische Juden verloren ihre Arbeit oder wurden in die Emigration gezwungen. Und nun kniete Brandt ausgerechnet vor dem Ghetto-Mahnmal. Die Irritation im Politbüro war doppelt groß, weil der Kanzler direkt vorher auch am Grabmal des Unbekannten Soldaten einen Kranz niedergelegt hatte, um die polnischen Freiheitskämpfer zu ehren. Auf die Knie aber sank er vor der Skulptur mit den Ghetto-Helden. Kein Wunder also, dass die Staatsmedien den Kniefall zensierten. In Polen wurden die Bilder vollständig erst nach 1989 publiziert - zu spät, um eine breite Wirkung entfalten zu können. Geblieben sind in dem leidgeprüften Land vor allem Fragen und Zweifel.

Bis heute spürbar

Man kann sie spüren, wenn man vor dem Willy-Brandt-Denkmal steht, einer schlichten Ziegelwand mit Bronzerelief, keine zweihundert Meter vom sehr viel größeren Ghetto-Mahnmal entfernt. Die Gedenktafel, im Jahr 2000 enthüllt, zeigt den knienden Kanzler. Im Hintergrund ist eine Menora zu sehen, ein siebenarmiger Leuchter, eines der wichtigsten religiösen Symbole des Judentums. Und spätestens damit beginnen die Fragen. Die Deutschen töteten während der NS-Besatzung rund sechs Millionen Polen. Darunter waren etwa drei Millionen Menschen jüdischen Glaubens, die dem Holocaust zum Opfer fielen. Kann man das, soll man das trennen? Eine halbe Minute verharrte Brandt auf den Stufen des Ghetto-Mahnmals, kniend und „auch betend, dass man uns verzeihen möge“. So schilderte er es selbst. Aber was genau verzeihen? Bahr behauptete später: „Er meinte alle NS-Opfer, und das ist in Polen auch so verstanden worden.“ Wirklich? Wissen jedenfalls konnte man das in Warschau damals nicht, angesichts der wortlosen Geste.

„Außerdem waren die Polen mit den Diskussionen um die Versöhnung schon weiter“, erklärt Agnieszka Lada. Fünf Jahre zuvor hatten die katholischen Bischöfe des Landes einen Brief an ihre deutschen Amtsbrüder geschickt: „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“, lautete der zentrale Satz, der den Weg zur Aussöhnung ebnen sollte. Die Reaktionen blieben verhalten, in beiden Teilen Deutschlands, und auch in Polen selbst stießen die Bischöfe auf Unverständnis. Doch dann, fünf Jahre später, kam Brandt, kniete nieder, im Zweifel am falschen Ort, betete wortlos und erhielt für seine Ostpolitik 1971 sogar den Friedensnobelpreis. Das musste für Irritationen sorgen. Deshalb ist es auch kein Wunder, dass der Kniefall in Polen bis heute nicht als die ultimative deutsche Demutsgeste an die eigene Adresse gewertet wird, die man sich im Land so dringend gewünscht hätte und noch immer wünscht.

Stimmungslage gespalten

Politikwissenschaftlerin Lada verweist auf die Ergebnisse des deutsch-polnischen Barometers, das alljährlich die Stimmungslage zwischen den Nachbarn erfasst. Die Studie, bei der Lada die Federführung hat, zeigte es 2020 noch einmal deutlich: Nur 29 Prozent der Polen finden, dass das historische Leid und die Opfer der eigenen Nation ausreichend gewürdigt werden. Daran haben auch die bewegenden Feiern zum achtzigsten Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen 2019 nichts geändert, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Wielun besuchte. Das ist jener Ort, den die deutsche Luftwaffe 1939 als ersten in Schutt und Asche legte. Steinmeier sprach mit Überlebenden und bekannte später bei einer Rede in Warschau bildhaft: „Ich stehe heute barfuß vor dem polnischen Volk, als Mensch, als Deutscher, beladen mit einer historischen Last.“

Und der Bundespräsident forderte auch: „Schaut auf den Heldenmut und die unbezwingbare Freiheitsliebe der polnischen Nation.“ Er verwies dabei auf das Grabmal des Unbekannten Soldaten, vor dem Brandt gerade nicht niederkniet war. Zu spät, könnte man meinen: Steinmeier wählte die richtige Geste am richtigen Ort, kam aber nicht zur richtigen Zeit. Aber heißt das im Umkehrschluss auch, dass Brandts Kniefall ein Fehler war oder zumindest missglückt? Nein. Persönlich bin ich überzeugt, dass es die richtige Geste zur richtigen Zeit und auch am richtigen Ort war: am Abgrund der deutschen Geschichte. Auf den nassgrauen Stufen des Ghetto-Mahnmals kann man den Sog dieses Abgrundes noch heute spüren, auch ohne niederzuknien. Ein anderes Mal werde ich es tun, vielleicht. In jedem Fall aber ohne den Gedanken an ein Publikum im Hinterkopf.