Weil sonst die Innenstädte veröden und immer mehr Jobs verloren gehen, will die konservative Regierung von Premier Boris Johnson die Briten mit düsteren Drohungen und freundlichen Appellen ins Büro zurückholen. Das gestaltet sich schwieriger als erwartet: Viele haben es sich im Homeoffice gemütlich gemacht, fürchten die lange und teure Pendelei. Hinzu kommt die Verunsicherung durch immer neue Regierungspannen bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie. Das Londoner Finanzviertel am Wochentag: Wo sich sonst Autos stauen und nach Feierabend dichte Menschentrauben um die Pubs stehen, kann man Passanten jetzt an einer Hand abzählen. Die normalerweise allgegenwärtigen Schlangen vor Sandwich-Läden zur Mittagszeit gibt es vereinzelt nur deshalb, weil viele Filialen der großen Ketten geschlossen bleiben.

Erhebliche Teile der City of London, glaubt Catherine McGuinness von der zuständigen Verwaltungsbehörde, „machen wieder auf, allmählich kommen die Leute zurück“. Allmählich – das beschreibt den Sachverhalt sehr genau. Der Investmentbank Morgan Stanley zufolge waren auf der Insel Ende Juli gerade einmal 37 Prozent der Büroangestellten am gewohnten Arbeitsplatz, in der EU lag ihr Anteil knapp doppelt so hoch. Im traditionell stillen August gingen in den 63 größten britischen Städten 17 Prozent der Angestellten ins Büro, in London nur 13 Prozent.

Die Firmen reduzieren die Kernmannschaft

Viele Firmen, nicht zuletzt in der City, geben sich mit minimalem Personalstand vor Ort zufrieden. Bei Werbeagentur-Gigant WPP verlieren sich kaum mehr als 300 Menschen in Räumen für insgesamt 10.000 landesweit. Anderswo sind die Verhältnisse noch deutlicher: Viele Banken, Vermögensverwalter, Versicherungen und Beratungsfirmen, darunter Schroders und KPMG, haben ihren Mitarbeitern das Arbeiten von daheim aus freigestellt. Öl-Gigant BP will sein historisches Hauptquartier am St. James’s Square verkaufen; man wolle zukünftig im „Hybrid-Modus“ arbeiten und Büroraum freimachen, sagt BP-CEO Bernard Looney.

Schon spricht der Unternehmerverband CBI von „Geisterstädten“. Die „natürliche Vorsicht“ der Menschen stelle ein Risiko für die Erholung der Volkswirtschaft dar, mahnt Zentralbank-Gouverneur Andrew Bailey. Die Hiobsbotschaften vom Arbeitsmarkt häufen sich, und zwar besonders bei jenen Dienstleistern, die vom Konsum bisheriger Büroarbeiter – durchschnittlich laut Thinktank CEBR 227 Euro pro Monat – abhängig sind. Die Kaffeehaus-Kette Costa Coffee verkündete die Streichung von 1650 Arbeitsplätzen, beim Sandwich-Verkäufer Pret A Manger verlieren 2890 Angestellte ihren Job, beinahe ein Drittel der bisherigen Gesamtzahl.

Mieten werden nicht immer gesenkt

Wie unterschiedlich kommerzielle Vermieter auf die Krise reagieren, erlebt der Unternehmer Hubert Zanier hautnah. Für das Wiener Kaffeehaus „Kipferl“ kam der örtliche Vermieter in der hippen Camden-Passage dem Österreicher großzügig entgegen. Bei mehreren Immobilienbesitzern seiner asiatischen Suppenküchen „Nusa“ hingegen biss Zanier mit der Bitte um Geduld auf Granit. Es handele sich überwiegend um Investmentfonds mit vielen Objekten, hat der 47-Jährige beobachtet: „Die machen es Firmen wie meiner unmöglich, weiterzumachen. Dafür werden sie demnächst schwer auf die Nase fallen“ – wenn Unternehmer ihre Geschäfte mangels Kundschaft schließen müssen.

So könne das nicht weitergehen, betonten Johnson und manche seiner Minister zuletzt, sprachen drohend von Jobkündigungen für jene, die im Homeoffice verharren. Dazu gehören auch viele Tausende Regierungsangestellte, was der Chef der zuständigen Gewerkschaft FDA, Dave Penman, gut findet: „Wenn die Leute völlig problemlos von zu Hause aus arbeiten können, brauchen wir wirklich nicht Zehntausende von Menschen in die U-Bahnen und Büros zu scheuchen.“

Proteste von Verbänden und Gewerkschaften

Nach derlei Protesten von Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften ruderte die Regierung zurück: Man werde „sich nicht einmischen in Entscheidungen, die im Dialog zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gefällt werden müssen“, sagt Arbeitsministerin Therese Coffey. Johnson setzt nun auf Appelle: Zu Beginn des Schuljahres kehre die Nation „in Schulen und Büros“ zurück, verkündete er im Londoner Unterhaus. „Wir wollen das Land voranbringen.“

Kommende Woche soll eine Anzeigenkampagne die Covid-Sicherheit von Geschäftszentren und öffentlichen Verkehrsmitteln betonen. Freilich gibt es für das Millionenprojekt noch nicht einmal einen zündenden Slogan. Zudem stehen den schönen Appellen die Regierungsversäumnisse in der Pandemie entgegen: Eine der auf die Bevölkerungszahl bezogenen weltweit höchsten Todesraten, monatelanges Schulchaos, dauernde Kurswechsel in Vorschriften wie Mindestabstand und Maskenpflicht haben die Bevölkerung dauerhaft verunsichert. Am Mittwoch wurden lokale Lockdowns in den Städten Trafford und Bolton in Greater Manchester binnen weniger Stunden zunächst aufgehoben, dann neu verhängt – Gift für lokale Einzelhändler und Dienstleister.

Lebensqualität ist gefragt

Hinzu kommt die Tatsache, dass die immer größere Konzentration auf wenige Zentren wie London und Manchester dem Lebensstandard und der Lebensqualität vieler Menschen keineswegs zuträglich ist. So stieg das durchschnittliche Haushaltseinkommen, abzüglich Wohnraumkosten, in London in den vergangenen 15 Jahren lediglich um sechs Prozent; im Rest des Landes betrug der Anstieg 13 Prozent. Gleichzeitig dauerte die durchschnittliche Anreise zum Arbeitsplatz länger, von 24 auf 31 Minuten, so eine Analyse des Thinktanks Resolution Foundation. Einer Erhebung der Vergleichs-Website „Expatistan“ zufolge zahlen Londoner für ihre Monatskarte mit 150,82 Euro den bei Weitem höchsten Preis unter Bewohnern von 55 Städten weltweit.