Trotz anhaltender Proteste in Bulgarien bleibt Boiko Borissow Regierungschef eines bürgerlich-nationalistischen Koalitionskabinetts. Borissow stellte am Donnerstag eine Umbildung seines Kabinetts vor. Es werde neue Minister in vier Ressorts geben, wie Borissow nach Beratungen mit seinen nationalistischen Koalitionspartnern erklärte.

Neu besetzt werden sollen die Ressorts Innere Angelegenheiten, Finanzen, Wirtschaft und Gesundheitsversorgung. Die Einstellung eines neuen Innenministers dürfte ein Zugeständnis an die Demonstranten sein, nachdem ein Fall von Polizeigewalt gegen einen Protestteilnehmer bekannt wurde. Neuer Innenminister soll der jetzige Polizeichef Hristo Tersijski werden.

Offensichtlich wegen kontinuierlich und stark steigender Corona-Fallzahlen soll es einen neuen Gesundheitsminister geben. Nominiert sei der jetzige Chef der großen Aleksandrowska-Klinik in Sofia, Kostadin Angelow. Dieser befürwortet strengere Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus. Der jetzige Gesundheitsminister Kiril Ananiew soll das Ressort Finanzen übernehmen. Er war zuvor viele Jahre lang Vize-Finanzminister gewesen. Das Tourismusministerium soll abgeschafft werden.

Außenministerin Ekaterina Sachariewa und Verteidigungsminister Krassimir Karakatschanow behalten ihre Posten. Beide sind zugleich auch Vize-Ministerpräsidenten.

Es ist noch nicht bekannt, wann die umgebildete Regierung vom Parlament gebilligt werden soll. Die Demonstranten, die seit zwei Wochen den Rücktritt der gesamten Regierung fordern, wollten ihre Proteste bis zum Rücktritt des Kabinetts fortsetzen. Das bestätigte einer der Organisatoren der Proteste, Welislaw Minekow, im Staatsradio. Er kündigte eine Verschärfung der Proteste an.

Schon im Jahr 2015 warnte der gebürtige bulgarische Schriftsteller Ilija Trojanow vor den politischen Verhältnissen in Bulgarien. Hier ein Auszug aus dem damaligen Interview:

In Ihrem Roman "Macht und Widerstand" kehren Sie in das repressive Land Ihrer Kindheit zurück. Sie geben jenen eine Stimme, die unter der kommunistischen Herrschaft gelitten haben. Hat sich seit dem EU-Beitritt 2007 viel verbessert in Bulgarien?
ILIJA TROJANOW: Kommt drauf an, wen Sie fragen. Das einfache Volk auf dem Land spürt wenig davon, im Gegensatz zu jenen, die sich das Land untereinander aufteilen. Der Selbstversorger-Bauer hat weniger davon als der Großunternehmer. Es ist ganz einfach: Im Kommunismus ist die Macht dort, wo die Eliten sind, im Kapitalismus ist die Macht dort, wo das Kapital ist. Aber um mit einer Illusion aufzuräumen: Der Demokratisierung des Landes hat der EU-Beitritt nicht gedient. Die verkrusteten Strukturen in Bulgarien sind nicht aufgeweicht.

Was braucht es in Bulgarien?
ILIJA TROJANOW:
Eine Revolution. Wenn man glaubt, dass sich Bulgariens Gesellschaft evolutionär heilen wird, dann dauert das noch 100 Jahre. Ich fürchte, dass wir alle miteinander die totale Traumatisierung der Gesellschaft durch die kommunistische Herrschaft unterschätzt haben. Die Probleme werden ein Vierteljahrhundert nach der Wende wieder schlimmer. Es gibt eine Rückkehr in die alten Systeme Kleptokratie und Nepotismus.

Warum wählt das bulgarische Volk dann jemanden wie Boiko Borissow zum Premier? Borissow war der Leibwächter Todor Schiwkows, des zähesten Diktators Osteuropas, der Bulgarien drei Jahrzehnte im kommunistischen Würgegriff hatte.
ILIJA TROJANOW: Borissow oder ein anderer, völlig egal. Sind alle aus demselben Holz. Borissow ist so ein hemdsärmeliger Haider-Typ, der tut, als könnte er aufräumen. Er hat einen schwarzen Gürtel in Karate, hat auch ein bisschen was von Putin. Borissow hat sogar seinen Großvater hervorgeholt, der von den Kommunisten gequält worden ist. Von 2009 bis 2013 war er schon einmal Premier - und in all den Jahren hat er es nicht geschafft, die Geschichtsschreibung in den Schulbüchern zu korrigieren: Denn darin hört die Geschichte entweder 1944 auf oder besteht aus Verklärungen. Ich bin Borissow einmal begegnet und hab ihm das an den Kopf geworfen, er hat nur gezuckt und sich am Kopf gekratzt. Aber es ist nicht wesentlich, wer in Bulgarien an der Macht ist: Nur Theater! Es ist alles in der Hand der ehemaligen Nomenklatura, der heutigen Oligarchie.

Ilija Trojanow
Ilija Trojanow © Lukas Wagner