Wenige Meter vor dem Ziel ist Boris Johnson doch noch ins Stolpern geraten. Als ein Reporter den britischen Premier und Favoriten für die Parlamentswahl am Donnerstag dieser Tage fragte, was er davon halte, dass ein vierjähriger Bub mit dem Verdacht auf Lungenentzündung im Krankenhaus von Leeds stundenlang auf dem Boden hatte liegen müssen, weil kein Bett verfügbar war, wollte Johnson davon nichts wissen. Die Bitte, sich ein Handyfoto des Kindes anzuschauen, lehnte er ab: „Ich seh mir’s später an.“

Sprachs, schnappte sich das Reporter-Handy und steckte es in die Tasche. Erst etwas später schien ihm zu dämmern, was er angerichtet hatte. Zu diesem Zeitpunkt erklärte sein Labour-Kontrahent Jeremy Corbyn bereits in allen Medien, Johnson sei herzlos: „Das Ganze kümmert ihn einfach nicht.“

Ist Boris Johnson also ein gefühlloser Premier? In Panik entsandten die Konservativen Gesundheitsminister Matt Hancock nach Leeds, um dem Buben Mitleid zu bekunden.

Fahne im Wind

Ob die Episode die Unterhauswahl wirklich beeinflussen wird, vermag niemand zu sagen. Die Geschichte verstärkt aber den alten Verdacht, dass Politik für der Chef der Konservativen ein Spiel ist, das es ihm erlaubt, sich in selber Szene zu setzen, keine Frage einer programmatischen Vision. Als Opportunisten brandmarken ihn seine Kritiker ja seit Langem. Selbst in der Tory-treuen Londoner Times stand einmal zu lesen, Johnson glaube „an nichts“, wisse aber „zu allem etwas zu sagen“. In der Tat war es für den ehrgeizigen Johnson nie ein Problem, sich als Bürgermeister Londons europäisch und großstädtisch liberal zu geben, um sich dann als Brexiteer rechtskonservativ einzufärben. Unvergesslich bleibt, wie er seine Entscheidung für oder gegen den Brexit bis zuletzt aufschob, um sehen, woher der Wind wehte.

Auch im Wahlkampf hat man ihn immer wieder mit jenem verschwörerischen Augenzwinkern erlebt, das für ihn so typisch ist. Mit einem fast verlegenen Lächeln um die Lippen, als sei er sich des sträflichen Unernstes bewusst, mit dem er sich dieser Wahl stellt. Und doch finden selbst Briten, die ihn für einen Strolch halten, Johnsons Selbstinszenierung vergnüglicher als die spröde Art Jeremy Corbyns. Mit seinem leutseligen Gebrabbel, dem Augenrollen, der sorgsam verstrubbelten Mähne, gespielten Tolpatschigkeit und allerlei privaten Geheimnissen weiß er das öffentliche Interesse auf sich zu ziehen, während sein Rivale wenig Unterhaltungswert hat.

Boris bleibt in Deckung

Um „ihrem“ Mann nicht allzu viel Gelegenheit zu Patzern zu geben, haben sich Johnsons Strategen bemüht, ihm ernstere Prüfungen zu ersparen. Mehrere TV-Debatten fanden ohne „Boris“ statt. Pressekonferenzen suchte Johnson zu meiden. Ein Interview mit dem gefürchteten BBC-Moderator Andrew Neil schlug er aus. Seine Gegner warfen ihm vor, sich davor drücken zu wollen, dass seine „Lügengeschichten“ auf Herz und Nieren geprüft würden – von den erfundenen Zitaten, die ihn einst bei der Times seinen Job kosteten, bis hin zum hundertfach wiederholten Schwur dieses Jahres, er würde eher „in einem Graben sterben“ wollen, als sein Land nach dem 31. Oktober noch in der EU zu sehen.

Im Wahlkampf hatte Johnson die Opposition mit der Behauptung in Rage versetzt, das widerborstige Parlament habe „seinen“ Brexit gestoppt. In Wahrheit hatten er und die Brexiteers erst den von Vorgängerin Theresa May ausverhandelten Austrittsvertrag mit Brüssel sabotiert. Dann hatte Johnson seinen eigenen, vom Unterhaus bereits bewilligten Deal mit der EU aus dem Verkehr gezogen, weil er lieber Neuwahlen wollte.

Das Prinzip des pausenlosen Einhämmerns längst widerlegter „Fakten“ war zentraler Teil seiner Wahlkampagne, auf den sich der Tory-Vorsitzende mit erstaunlicher Selbstbeherrschung konzentrierte. Das Konzept erwies sich als äußerst effizient. Denn das vom Referendum mitgebrachte „Vote Leave“-Team von 2016, unter Johnsons Chef-Strategen Dominic Cummings, lieferte dem „Boss“ erneut die zündende Idee. Damals hatte Cummings die Stimmung im Lande mit dem Slogan „Take back control“, („Holt euch die Kontrolle zurück“, perfekt getroffen. Diesmal lauteten die drei magischen Worte „Get Brexit done!“– Bringen wir den Brexit ins Trockene!

Kein Tag verging, an dem „Boris“ im Wahlkampf diese drei Worte nicht dutzendfach wiederholte. „Get Brexit done“ wurde zur Losung seiner Regierung. Es war ein Spruch, der haarscharf die Stimmung traf. Denn die des Brexit-Gerangels müden Briten wollen sich nicht länger mit dem leidigen EU-Austritt abplagen. Clever verband Johnson damit das Versprechen, Großbritanniens „Potenzial zu entfesseln“ und gezielt in Schulen, Krankenhäuser und Polizei zu investieren.

Ehrgeiz beim Siegen

Das eine mit dem andern zu verbinden, die Umsetzung des Brexits zur Voraussetzung für einen anschließenden Reformschub zu machen, erwies sich als genial – zumal Johnson nach neun Jahren harscher Tory-Sparpolitik das „Ende der Austerität“ einläutete und dem Brexit so eine positive Note verlieh.

Viele seiner Landsleute überraschte die Disziplin, mit der er sich an diese simple Strategie hielt: Her mit dem Brexit, Adieu Sparpolitik, Schluss mit der Lähmung Westminsters. Wählt die Zukunft, Leute. „Wonderful Boris is here.“ Den Kommentator der Financial Times, Robert Shrimsley, erinnerte diese eiserne Entschlossenheit daran, wie Boris einmal einen japanischen Buben beim Rugby überrannte, um sich seines Sieges sicher zu sein. Ernst sei es Johnson nur bei einem, nämlich beim Gewinnen, meint Shrimsley: „Dafür macht er alles, was gemacht werden muss.“

Nigel Farages Brexit-Partei vermochte Johnson auf diese Weise auszumanövrieren. Nun hofft er darauf, auch genügend Labour-Anhänger, die vom Brexit-Streit genug haben, zu gewinnen. Johnsons Siegeswille freilich, bedeutet nicht, dass er klare Vorstellungen davon hätte, was er mit der Mehrheit im Unterhaus anfangen könnte. „Der Brexit hat ihm den Anschein von Führungskraft verliehen“, sagt Shrimsley. „Er hat es ihm erlaubt, die radikale Kraft zu spielen für einen Wandel, wie ihn die Wähler wollen.“ Aber zum Regieren, zur Umsetzung des Wandels, habe Johnson kaum das nötige Gewicht, die erforderliche Qualität.

Singapur an der Themse

Auf der britischen Linken befürchtet man indes, dass es sehr wohl einen Johnson-Plan gibt, nämlich den, das Land in eine Art „Singapur an der Themse“, in einen Spielplatz des internationalen Kapitals, zu verwandeln. Hinter der Clown-Maske, so formuliert es ein Kritiker, stecke eine „todernste“ Absicht bei BoJo und den Brexiteers.

Johnson hält das alles für „Unsinn“. Er will seine Briten nur endlich von ihren „EU-Fesseln“ zu befreien. „Bringen wir den Brexit hinter uns“, mahnte er seine Mitbürger bis zuletzt.