Wer in diesen Tagen nachts mit dem Wagen zwischen London und dem Fährhafen Dover unterwegs ist, findet sich auf einer gespenstisch erleuchteten Strecke – mit gleißenden Scheinwerfern und blinkenden Warnleuchten überall. Dutzende Bautrupps arbeiten die Nächte durch, um die Hauptautobahn zum Kontinent, die M 20, in ein mehrspuriges Auffangbecken für Lkw und eine flexible Schleuse für den Personenverkehr umzumodeln. Sollte Großbritannien am 31. Oktober ohne Deal mit Brüssel die EU verlassen, will man gerüstet sein. Manchmal an Wochenenden sind sogar ganze Teile der Strecke gesperrt, oft mit wirren Umleitungsschildern. Einmal falsch abgebogen, verirrt man sich heillos. Und das ist nur ein Vorgeschmack darauf, was im Ernstfall droht.
Am Donnerstag prophezeite der konservative Vorsitzende des Grafschaftsrats, Paul Carter, die Polizei von Kent werde es bei einem Brexit-Fiasko kaum schaffen, „das Straßennetz rund um die Uhr offen zu halten“. Carters Alarmruf kam wenige Stunden nach Offenlegung der Regierungplanung für ein No-Deal-Szenario, die sogenannte „Operation Yellowhammer“. Zur Bekanntgabe hatte das Unterhaus die Regierung verpflichtet, bevor es in der Nacht auf Dienstag vertagt wurde.
Grenzkontrollen und Mega-Staus
Einige der vertraulichen „Mutmaßungen“ waren schon im Vormonat an die Öffentlichkeit gedrungen. Damals hatten die maßgeblichen Minister sie als „alte und überholte“ Dokumente abgetan. Diesmal mussten sie zugeben, dass es sich bei „Yellowhammer“ um ein durchaus neues Sammelsurium an Befürchtungen handelte – erstellt nach der Amtsübernahme von Boris Johnson, im August.
So geht die Regierung davon aus, dass sich bereits in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November um Dover der erste Rückstau sich bilden wird. Ohne Deal werden neue Grenzkontrollen den Warenfluss schwer behindern. 85 Prozent der britischen Spediteure haben sich offenbar noch immer nicht darauf vorbereitet. Auf Monate hin sei mit zweitägigen Wartezeiten zu rechnen.
"Niedrigverdiener" besonders betroffen
Das größte Problem bestünde für Medikamente von begrenzter Haltbarkeit und für frische Lebensmittel. Hungern werde man nicht müssen. Aber gewisse Lebensmittel dürften fehlen. Und viele Preise würden steigen. Das und die Verteuerung von Treibstoff träfe vor allem „die Niedrigverdiener“.
Auch „Proteste und Gegen-Proteste, öffentliche Tumulte und Spannungen in der Bevölkerung“ sieht die Regierung voraus, sollte es hart auf hart kommen. An der irischen Grenze und in Gibraltar werden spezielle Probleme erwartet. Auch im Personenverkehr, beim Eurostar und in den Flughäfen, könnte es lange Schlangen geben. 500 Grenzbeamte zusätzlich wurden eingestellt, Extra-Fährkapazitäten, Warenlager und Kühlanlagen organisiert.
Als „alarmierend“ betrachtet der Britische Ärzteverband die Enthüllungen. Man sehe nun „Schwarz auf weiß“, dass die Regierung Versorgungsprobleme mit wichtigen Medikamenten erwarte und Tierseuchen befürchte, falls es an Impfstoff fehle. Der Verband britischer Einzelhändler warnt vor „leeren Regalen“. Ein wilder Brexit Anfang November wäre „der schlimmstmögliche Zeitpunkt für Händler und Verbraucher“.
No-Deal-Gegner wie der frühere Tory-Kronanwalt Dominic Grieve fordern die Wiedereinberufung des Parlaments. Mit ihrem „rücksichtslosen Vorgehen“, klagte Grieve gestern, gefährde die Regierung von Boris Johnson in voller Kenntnis der Fakten den Wohlstand in Großbritannien, vergrößere die Armut und setze Patienten echten Gefahren aus.
Vorwürfe, Johnson habe die Queen angelogen, um die Zwangspause für das britische Parlament durchzusetzen, wies er zurück. Johnson wollte die Sitzungsperiode bis Mitte Oktober unterbrechen, um sein Regierungsprogramm vorzustellen. Anschuldigungen, er wolle damit die Abgeordneten daran hindern, einen Brexit ohne Abkommen abzuwenden, hatte er schon zuvor als „vollkommen unwahr“ bezeichnet.