„Damit werde ich wohl leben müssen“, sagte Angela Merkel zuletzt nach ihrem dritten Zitteranfall binnen kurzer Zeit. Mehr mochte die deutsche Regierungschefin nicht über ihren Gesundheitszustand verraten. Doch steuerte das Protokoll um. Beim Besuch der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen in der Vorwoche in Berlin nahmen Merkel und ihr Gast die Nationalhymnen der beiden Länder im Sitzen auf Stühlen entgegen. Frederiksen schlug skandinavisch gelassen die Beine übereinander, Merkel saß kerzengerade mit durchgedrücktem Rücken da. Die Kanzlerin zeigt auch im Sitzen Haltung.

65 Jahre alt wird Merkel heute. Aber öffentliche Feiern? Fehlanzeige! Am Morgen tagt das Kabinett wie üblich. Die Kanzlerin arbeitet weiter wie immer. Sie ist da ganz Protestantin: kantianisch-pflichtbewusst. Das treibt sie. „Ich spüre eine gewisse Anerkennung dafür, dass ich versuche, meine Arbeit ordentlich zu machen, aber ich erzeuge bei anderen auch viele negative Emotionen“, sagte Merkel zu Jahresbeginn in einem bemerkenswerten Interview in der „Zeit“. Schonungsloser und selbstkritischer hat sich kaum ein Weltpolitiker je selbst beschrieben.

Zwei Leben einer Kanzlerin

Es gibt die zwei Leben der Kanzlerin: Die im Ausland bewunderte Streiterin für Migration, offene Gesellschaft und Multilateralismus, die selbst US-Präsident Donald Trump trotzt wie im Vorjahr auf einem via Twitter verbreiteten ikonografischen Bild vom G7-Gipfel in Kanada. Und die Innenpolitikerin, oft kritisiert wegen ihrer „alternativlosen“ Entscheidungen, nicht zuletzt im Herbst 2015 mit ihrem Entschluss, in der Flüchtlingspolitik, Deutschlands Grenzen zu öffnen. Es ist ein Mosaik dieses schwierige Gesamtbild von Merkel. So wird auch Merkels Zittern unterschiedlich wahrgenommen. Die Anhänger im Ausland fürchten einen vorzeitigen Abgang der Kanzlerin in ohnehin unruhigen weltpolitischen Zeiten. Die Kritiker im Inland sehen die gesundheitliche Schwäche als Zeichen von beschleunigtem Machtverlust. Die Kanzlerin stellte dazu einmal grundlegend fest: „Ich glaube, dass man als Politikerin oder Politiker einstecken können muss, dass man diesen Beruf nur ausüben kann, wenn nicht zu schnell getroffen ist. Man muss sich auf die Sachaufgaben konzentrieren. Den Rest nehme ich zu Kenntnis.“ Die Frau hat Größe, sagen die Bewunderer. Sie ist beratungsresistent, klagen die Kritiker.

Die Kanzlerin erklärt sich selten. Ihren Abschied aus der Politik jedoch kündigte sie bereits für 2021 an. Politik war für sie stets weniger Beruf, sondern mehr Berufung als Pflichterfüllung. Die Rolle als Anführerin der freien Welt war für sie ohnehin nicht vorgesehen. „Ich wohnte in der Nähe der Berliner Mauer“, erinnerte sich Merkel im Mai in ihrer Harvard-Rede an die Zeit als junge Physikerin zu DDR-Zeiten an der Berliner Humboldt Universität im Osten der Stadt . Auf dem Heimweg sei sie täglich Richtung Mauer gelaufen. „Und jeden Tag musste ich im letzten Moment abbiegen. Jeden Tag musste ich kurz vor der Freiheit abbiegen.“ Die Geschichte vom Mädchen, der Mauer und der Karriere in der Weltpolitik ist eine sehr amerikanische Erfolgsgeschichte vom Triumph der Freiheit. US-Präsident Barack Obama verlieh Merkel 2011 dafür die Freiheitsmedaille . Von einer „Stimme für Menschenrechte weltweit“, schwärmte Obama damals. Merkel freilich lernte die Geschichte von der anderen Seite der Mauer kennen: Staaten können untergehen, Ordnungen versinken. Auch deshalb ihr stetes Beharren auf Wettbewerbsfähigkeit und Reformen. Das Bestehende ist nicht gewiss.„Dass man besser klarkommt, wenn man vorsorgt und wenn sich ein Land politisch konsequent auf Veränderungen einstellt“, so Merkels Erkenntnis.

Obama zurechtgewiesen

Sie war es, die dem jungen Senator Obama 2008 eine Rede am Brandenburger Tor verwehrte. Er war es, der Merkel das 2014 nachsah und ihr die heikelste außenpolitische Frage der Zeit überließ: Nach der russischen Annexion der Krim musste Merkel mit Russlands Staatschef Wladimir Putin für den Westen verhandeln. Frankreichs Präsident Francois Hollande saß zwar dabei. Aber Merkel regelte das Ganze. Erst kam der Aufstieg auf der weltpolitischen Bühne im Ukraine-Konflikt, dann die unumstrittene Krisenmanagerin bei der Eurorettung. „The indispensable European“, titelte der Economist 2015 auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Die unverzichtbare Europäerin. Stimmt das immer noch?

Merkel hat eine eigentümliche deutsch-deutsche Geschichte. Sie ist 1954 in Hamburg geboren. Die Familie zog erst später in den Osten. Der Vater, ein Pastor, wollte den bedrängten Christen in der DDR beistehen. Erst der Fall der Mauer spülte Merkel 1989 in die Politik. Nicht etwa eine bewusste Karriereplanung. Merkel hat nie an den Gittern des Kanzleramts gerüttelt und gerufen „Ich will da rein“ wie ihr Vorgänger Gerhard Schröder. Die Distanz zur „Politik als Beruf“ verschaffte ihr eine bleibende innere Unabhängigkeit, die manches erklärt. Jenen offenen Brief als CDU-Generalsekretärin im Jahr 1999 etwa, in dem Merkel den Umgang Helmut Kohls mit dem Parteispendenskandal der Union rügte. Merkel war da schon Kohls Umwelt- und Familienministerin gewesen. Er hatte die einstige Vize-Sprecherin der einzigen frei gewählten Regierung der DDR in sein Kabinett geholt. Sie war „Kohls Mädchen“. Nun schrieb sie in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, der Patriarch habe „der Partei Schaden zugefügt. Das war eine unerhörte Emanzipation gegenüber dem Kanzler der Einheit. Die Pastorentochter aus dem Osten legte sich mit dem Gottvater der Union an. Jungs aus dem Westen hätten eher taktiert, Merkel handelte. Kohl habe sich „über Recht und Ordnung gestellt“, schrieb Merkel aus innerer Überzeugung und ohne doppeltes Netz. Kohls Bild wankte. Und der CDU-Spendenskandal fegte 2000 auch noch Wolfgang Schäuble als Parteichef hinweg. Es folgte Angela Merkel. Zu warten, bis sich eine Entscheidung ergibt, weniger taktieren. Das ist die Methode Merkel.

Managerin der Eurokrise

So hat sich auch in der Eurokrise gehandelt. Sie hielt Griechenland 2015 im Euro - gegen den Willen ihres Finanzministers Schäuble. „Das sind keine Entscheidungen, die am Reißbrett entstehen, sondern Antworten auf das reale Leben“, sagte Merkel der „Süddeutschen Zeitung“. Die andere Entscheidung bahnte sich im Sommer 2015 schon an, dem Wendejahr in Merkels politischer Biografie. Es war Juni. Es war heiß im deutschen Pressesaal im Ratsgebäude der EU. Die Staats- und Regierungschefs der EU verhandelten wieder einmal über Griechenland. Die Kanzlerin eröffnete ihre nächtliche Pressekonferenz aber mit einem überraschenden Satz: „Ich bin der Überzeugung, dass wir hier vor einer der größten Herausforderungen stehen, vor der die Europäische Union je stand.“ Es ging zur Überraschung der Journalisten aber nicht um die Zukunft des Euro, sondern um die Flüchtlinge. Die Krise kam also nicht unerwartet. Nur wollte sie die deutsche Öffentlichkeit nicht wahrhaben.

Ihr Wendejahr 2015

Im September 2015 öffnete Merkel dann die Grenzen. Es gibt viele Erklärungsversuche für ihr Handeln. Ihre Herkunft aus der DDR und das Bild von Menschen vor geschlossenen Grenzen im Herbst 1989. Das Drängen der deutschen Wirtschaft, die mit Blick auf die gut ausgebildeten ersten Flüchtlinge auf Syrien auf neue Fachkräfte hoffte. Aber auch jenes traurige Ereignis Ende August, als im österreichischen Parndorf 71 Flüchtlinge tot in einem Lastwagen gefunden wurden. Merkel weilte an diesem Tag in Wien bei Kanzler Werner Faymann. „Ich habe auf eine humanitäre Notsituation reagiert“, so Merkel über ihr einsames Vorgehen.

„Die Herausforderung war da. Und ich musste mit ihr umgehen.“ Dieser Entschluss war wirklich alternativlos. Nur hat die Kanzlerin ihr „Wir schaffen das“ hinterher nicht erklärt. Ähnlich wie ihre Politik in der Eurokrise. Seither gibt es dieses doppelte Bild von Angela Merkel. Geschätzt im Ausland, distanziert betrachtet im Inland vom rechten Flügel der Union und den Populisten der AfD. Merkel hätte die zwei Bilder der Kanzlerin noch einmal zu einem Gesamtwerk zusammenführen können nach der Bundestagswahl 2017. Aber FDP-Chef Christian Lindner kippte das Jamaika-Bündnis der Union mit Grünen und Liberalen. Auch er setzte auf Merkels Scheitern.

Konkurrenz aus der eigenen Partei

Es war ja nicht so, dass Merkel ohne Rivalen wäre. Friedrich Merz ist plötzlich wieder da. Und ihr ewiger Widersacher Wolfgang Schäuble nahm sie zwar mit ins Kino zum Film „Ziemlich beste Freunde“. Aber auch er brachte in der Regierungskrise im Vorjahr eine Minderheitsregierung ins Spiel - unausgesprochen unter seiner Führung. „Schon als Physikstudentin habe ich Männer an der Uni als sehr dominant erlebt. In der Politik hat sich das nochmal ganz anders dargestellt“, sagte Merkel im Interview mit der „Zeit“ Sie hat Europa spätestens seit der Euro-Krise 2012 geprägt. Aber auf eine große europapolitische Rede wartet die EU noch heute. Im Vorjahr, als der damalige CSU-Chef und Innenminister Horst Seehofer Korrekturen in der EU-Flüchtlingspolitik forderte und mit dem Aus der Koalition drohte, sprang ein Sondergipfel Merkel bei. Wenn die Anführerin der Löwen angegriffen werde, komme das Rudel zu Verteidigung, sagte Belgiens Premier Charles Michel. Das war vor einem Jahr. Nun reichte Merkels Einfluss nicht einmal, um Manfred Weber oder Frans Timmermans als Kommissionschef durchzusetzen. Die Regie in Europa hat jetzt Emmanuel Macron übernommen. Macht schwindet schleichend.

Seit 2005 regiert Merkel. Sie steht damit in der bundesdeutschen Geschichte einer Reihe langgedienter Bundeskanzler wie Konrad Adenauer (1949 bis 1963) und Helmut Kohl (1982 bis 1998). Adenauer hat die Bundesrepublik im Westen verankert. Kohl die deutsche Einheit vollbracht. Und Merkel? Europa mit dem Festhalten am Euro geeint oder durch den verordneten Sparkurs gespalten? Deutschland mit der Flüchtlingspolitik weltoffener gemacht oder das Land polarisiert? Das Bild ihrer Kanzlerschaft bleibt merkwürdig unvollendet. Zwei Jahre hat sie noch. Maximal.