Um möglichst viele Vietcong zu töten, landeten US-Soldaten im März 1968 in dem Dorf My Lai. Dort richteten sie unter Frauen und Kindern ein Blutbad an. Als junger Journalist deckten Sie die Hintergründe dieses Kriegsverbrechens auf und schrieben darüber im „New Yorker“. Es war der Wendepunkt des Vietnamkriegs und Sie bekamen den Pulitzer-Preis dafür. Sind Sie stolz?

SEYMOUR HERSH: Na bitte? Natürlich! Wir Medienmenschen lieben es, wenigstens zehn Minuten in der Sonne zu stehen. Wir wollen alle Helden sein. Ich hatte aber auch Furcht vor dem Glamour, der mit dem Pulitzer-Preis kam.

Sie schreiben in Ihren kürzlich erschienenen Memoiren „Reporter“, dass es Sie freut, dass kein Präsident Sie gemocht hat. Koketterie?

SEYMOUR HERSH: Ich war einfach immer froh, dass ich nie bei informellen Meetings im Weißen Haus war. Ich war zu keiner Cocktailparty geladen. Wenn du für die „New York Times“ arbeitest oder für die „Washington Post“ oder für eine andere Zeitung, geht es natürlich immer darum, dass du Zugang zu Informationen haben musst. Man kann kein Washington-Korrespondent sein und keinen Draht hinein haben. Aber dann darfst du auch keinen Wirbel schlagen.

Ist es schlecht, wenn Journalisten Zugang zu Politikern haben?

SEYMOUR HERSH: Ich musste nie schreiben, was der Präsident bei einer Pressekonferenz sagte oder woran er gerade arbeitete. Ich hatte diesbezüglich immer eine komfortable Position. Ich bin ein Einzelgänger. Ich mache es alleine.

Ist das politische Personal an den Machthebeln heute besser oder schlechter als vor 50 Jahren?

SEYMOUR HERSH: Die Welt, und auch Amerika, wird mehr und mehr von Soziopathen, Deppen und Idioten regiert. Schauen Sie sich doch an, was los ist: in Ungarn, in Venezuela, in Amerika, in Polen. So viele Idioten, die die Geschäfte führen. In Amerika können wir uns allerdings glücklich schätzen, weil wir eine Verfassung haben, die von Genies wie James Madison und Alexander Hamilton verfasst wurde.

Was fällt Ihnen zum Begriff Message Control ein?

SEYMOUR HERSH: Mit Message Control habe ich mein ganzes Leben verbracht. Die Welt, in der ich lebe, in der wir leben, ist eine einzige Nachrichtensteuerung. Mich hat es immer angetrieben, Dinge herauszufinden, die die Regierung unter keinen Umständen veröffentlicht haben wollte. Das große Geheimnis ist, dass sich eine wichtige Information immer in einer einfachen Sache versteckt, man weiß nur nicht, wie man die Dinge verbinden muss.

Reden wir über den aktuellen US-Präsidenten.

SEYMOUR HERSH: Ich möchte nicht über Trump reden.

Weshalb nicht?

SEYMOUR HERSH: Was ist so interessant daran, über jemanden zu sprechen, der in Washington sitzt?

Weil viele vielleicht nicht verstehen, wieso er dort sitzt?

SEYMOUR HERSH: Entschuldigen Sie, bitte! Denken Sie wirklich, dass wir in Amerika uns das nicht auch fragen? Ich staune bis heute darüber, dass er gewählt wurde, auch wenn ich kein Fan von Hillary bin. Aber genauso erstaunt kann man über den Brexit sein. Wie konnte es passieren, dass die Mehrheit der Briten für einen Ausstieg aus der EU stimmte? Unfassbar ist diese ganze Brexit-Verrücktheit, die unendlich viel Geld kostet und nur Probleme bringen wird.

Sie sind zufällig Journalist geworden, sagen Sie. War es auch Zufall, dass Sie einer der berühmtesten Aufdeckerjournalisten wurden?

SEYMOUR HERSH: Ich begann als Polizeireporter in Chicago. Die Polizei war so lange gut zu dir, solange du die Regeln beherzigt hast: nie die Korruption innerhalb der Polizei ansprechen und nie den Rassismus und die Gewalt gegen Afroamerikaner ansprechen. Wenn ein Nachtklubbesitzer, der mit der Mafia zu tun hatte, 14 Kugeln im Körper hatte, war die offizielle Erklärung der Polizei: Er starb bei einem Autounfall. Die Polizisten haben mitgespielt, weil sie bezahlt wurden. Aber ich begann zu recherchieren. So war das. Es gab jedenfalls kein Trauma in meinem Leben, das dazu geführt hätte, investigativ arbeiten zu müssen. Mein Vater hatte nie Probleme mit lausigen, korrupten Cops, da gab es nichts, was mich zum Troublemaker gemacht hätte, aber es war so.

Wie sind Sie bloß immer zu Ihren Insider-Informationen gekommen?

SEYMOUR HERSH: Ich habe es hingekriegt. Ich hätte mein Leben lang nicht das gemacht, was ich gemacht habe, wenn ich nicht die Zuversicht hätte, dass sich Dinge zum Positiven ändern. Und Information verändert die Menschen.

War das Leben als Enthüllungsjournalist hart?

SEYMOUR HERSH: Nein! Ein hartes Leben hat ein mexikanischer Emigrant, der an der Grenze zu den USA festgenommen wird und der zusehen muss, wie seine Kinder von ihm weggebracht werden. Ein hartes Leben hat jemand, der in Osteuropa in einer Kohlenmine arbeitet. Es ist hart, in Afrika zu leben, wenn es wieder nicht regnet, alles verdorrt und die Kinder kein Wasser mehr haben. Ich bin in einer Familie groß geworden, in der es nie viel Geld gab, aber es gab immer Essen auf dem Tisch. Wir waren so die untere Mittelschicht, mein Vater hatte wenig zu lachen im Leben und starb auch früh an Lungenkrebs. Mein Vater und meine Mutter waren Immigranten aus Osteuropa, und diese Generation wusste nicht allzu viel über Spaß.

Und der Sohn wurde einer der berühmtesten Journalisten der Welt.

SEYMOUR HERSH: Ach was! Aber mein Bruder ist Doktor der Physik! Wer hätte gedacht, dass er das schafft? Das ist schon das Großartige an Amerika – dass hier so etwas möglich ist.

Und Sie bekamen den Pulitzer-Preis, den Oscar des Journalismus.

SEYMOUR HERSH: Ja. Aber der ist überbewertet. Es gibt viele Journalisten, die ihn genauso gut hätten bekommen können.

Wenn Sie heute am Anfang Ihrer Karriere stünden: Was würden Sie anders machen?

SEYMOUR HERSH: Ich würde nicht mehr ins Zeitungsgeschäft gehen. In großen US-Städten Amerikas gibt es oft nur noch eine Zeitung, und die hat wenig Journalisten. Was mich aber wirklich verrückt macht, sind diese Kabelfernsehen-News-Shows, bei denen alles schon „Breaking News“ ist. Mich stören auch diese Talkshows, in denen der Moderator Experten um sich schart und fragt: „Was denken Sie darüber?“ Und dann sagen die Experten auch noch: „Ich denke ...“ Aber es ist unbedeutend, was jemand worüber denkt, es sollte stattdessen um eine Diskussion über Fakten gehen. Nicht die Meinung ist interessant, die Fakten sind es.

Sie sagten einmal, dass Sie heute lieber Verleger wären, um Einfluss darauf zu haben, womit sich die Zeitung beschäftigt.

SEYMOUR HERSH: Ich wollte nie Reporter sein, auch kein Verleger. Als Reporter hasste ich die Verleger.

Was wollten Sie dann sein?

SEYMOUR HERSH: In Amerika wäre ich gern ein Baseballspieler geworden. Und bei Ihnen in Österreich Formel-1-Fahrer. Sport interessiert mich mehr als alles andere. In Österreich sind doch die Autorennfahrer Helden, oder?

Aber wie! Jochen Rindt, Niki Lauda ...

SEYMOUR HERSH: Und die Skifahrer. Die machen mir allerdings Angst. Wie kann man noch alles unter Kontrolle haben, wenn man so schnell unterwegs ist?