Überrascht Sie das Ergebnis der Wahlen in der Türkei?
KEREM ÖKTEM: Ja. Der Wechsel in Ankara war erwartet. Aber Istanbul galt seit 25 Jahren als die Bastion der AKP und Erdogans, der hier vor 25 Jahren seine politische Karriere als Bürgermeister angetreten hat. Das Ergebnis der Opposition ist beeindruckend. Erdogan ist nach der geltenden Verfassung immer noch ein unparteiischer Präsident. Aber er hat den Wahlkampf für die AKP selbst geführt. Die Opposition wurde von den Regierungsmedien ignoriert. Die Wahlplakate der AKP waren überall zu sehen. Die der Opposition wurden abgehängt. Die Wahlen fanden nicht unter demokratischen Bedingungen statt. Trotzdem haben sie ein demokratisches Ergebnis geliefert.

Was erstaunt Sie am meisten?
Dass die Regierung den Sieg der Opposition in Istanbul anerkannt hat.

Was bedeutet der Verlust von Istanbul für Erdogan?
Es ist ein symbolischer GAU. Mit 15 Millionen Einwohnern steht Istanbul für fast 50 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes. Es ist das Kraftwerk der türkischen Industrie, das Zentrum gesellschaftlicher und kultureller Trends. Es ist aber auch die Stadt, in der die Erfolgsgeschichte der AKP ihren Lauf nahm und Erdogan seinen Aufstieg begann. Es gibt ein türkisches Sprichwort, das diese Symbolik besonders hervorhebt: „Wer Istanbul gewinnt, der gewinnt die ganze Türkei, wer die Stadt verliert, verliert das Land!“. Aber es geht nicht nur um Istanbul, sondern um fast alle Großstädte in der Westtürkei, an der Südküste und auch um wichtige Städte im Landesinneren. Zusammengenommen machen sie gut zwei Drittel der Wirtschaftsleistung der Türkei aus.

Nach der Präsidentenwahl im Vorjahr sagten Sie, die Türkei steuere auf eine Diktatur zu. Ist die Demokratie vitaler als gedacht?
Ich bin jetzt in der Tat optimistischer. Dass die Opposition so stark auftreten konnte, weist darauf hin, dass sich die Stimmung im Land ändert. In der Bevölkerung ist immer noch eine demokratische Grundhaltung weit verbreitet. Das ändert aber noch nichts daran, dass um die 90 Prozent der Medien in Regierungshand sind und dass de jure unabhängige Institutionen des Staates, wie etwa die staatliche Nachrichtenagentur, ihre frühere Unabhängigkeit vollkommen verloren haben. Die Gewaltenteilung in der Türkei ist weitgehend aufgehoben.

Erleben wir den Beginn des Endes der Ära Erdogan?
Obwohl diese Wahlen wie eine nationale Wahl geführt wurden, ging es letzten Endes um die Städte und Kommunen. Erdogan bleibt der De-facto-Super-Präsident des Landes. Aber seine Partei und seine Person sind schwer angeschlagen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich nach einem Vierteljahrhundert eine Epoche dem Ende zuneigt.
Stefan Winkler