Plötzlich ist der Pragmatiker Recep Tayyip Erdogan wieder da. Seit einem halben Jahrzehnt war er hinter dem Techniker der totalen Macht verborgen geblieben. Noch in der Nacht der Kommunalwahlen, die er zur „Überlebensfrage“ für die Türkei, für sich selbst und seine islamische Regierungspartei AKP erklärt hatte, vollzog der türkische Staatspräsident die Wende und räumte ein, was nicht mehr zu verbergen war: Die vereinte Opposition hat die Wahlen dort gewonnen, wo es wehtut, in den Metropolen der Mittelmeerküste, in der Hauptstadt Ankara und wohl auch in Istanbul. Besonders schmerzt der Verlust der Bosporusmetropole, symbolisch die schwerste aller Niederlagen. Denn dort startete Erdogan 1994 seinen Aufstieg. Hier beginnt nun sein Niedergang.

Die Städte verkörpern die Zukunft des Landes

Angedeutet hatte es sich schon bei den Präsidialwahlen im Vorjahr: Erdogan ist verwundbar und die Opposition lebt, trotz massivster Repression, „Säuberungen“ und Zehntausender Verhaftungen. Sieben der zehn wichtigsten Großstädte hat das Oppositionsbündnis gewonnen, obwohl es der fast totalen Medienkontrolle und heftigen Manipulationsversuchen der Regierung wenig entgegensetzen konnte. Der Machtverlust der AKP in der Westtürkei ist auch deshalb eine Zäsur, weil deren Metropolen die Zukunft des Landes verkörpern. Sie produzieren zwei Drittel der Wirtschaftsleistung, sie ziehen die Jugend und alle an, die Arbeit suchen. Die katastrophale Wirtschaftslage war der Hauptgrund, Erdogan einen Denkzettel zu erteilen. Das hat er unterschätzt.

Doch trotz der historischen Niederlage blieb der Präsident relativ entspannt. Vor den TV-Kameras sprach er vom normalen Auf und Ab der Demokratie. Der Kontrast zu seinem beispiellosen Hass-Wahlkampf, in dem er Oppositionskandidaten pauschal als Terrorhelfer diffamiert hatte, hätte größer nicht sein können. Erdogans Gelassenheit hat Gründe. Auch wenn es so schien, ging es nicht wirklich um seine Person. Noch hat er die volle Kontrolle über die Macht. Bis zu den nächsten Wahlen bleiben ihm viereinhalb Jahre Zeit, um sein autokratisches Herrschaftssystem abzusichern. Vor allem aber wurde klar, dass sich die dramatische Spaltung der Gesellschaft in zwei gleich große politische Blöcke weiter verfestigt hat.

Die AKP ist immer noch die bei Weitem stärkste Partei der Türkei mit rund 44 Prozent der Stimmen. In der Provinz und in Zentralanatolien wählen die Menschen tribalistisch. Sie halten Erdogan blind die Treue, auch wenn sie leiden. Das ist sein stabiles Machtfundament seit 17 Jahren. Gefahr droht ihm hier vor allem von weiter rechts, von den Ultranationalisten seines Bündnispartners MHP, die der AKP einige Provinzen abnehmen konnten. Zu erwarten ist daher ein weiterer Rechtsruck der AKP – falls es nicht doch zu einer Palastrevolution in der Partei kommt.

Die neue Geschlossenheit der Opposition

Ein Hoffnungsschimmer für Demokraten und Liberale ist die neue Geschlossenheit der Opposition. Gewinner der Wahlen ist daher neben der sozialdemokratischen CHP die prokurdische Linkspartei HDP, die klugerweise im Westen keine eigenen Bewerber aufstellte, sondern zur Wahl der gemeinsamen Oppositionskandidaten aufrief. Mit ihren Stimmen verhalf sie diesen in den Ballungszentren zum Sieg – für die fragmentierte, auf sich selbst bezogene Opposition der Türkei ein gewaltiger Sprung. Zudem eroberte die HDP trotz der Verhaftung fast ihres gesamten Führungspersonals die meisten ihrer von Staatskommissaren besetzten Rathäuser im Südosten zurück, andere verlor sie offenbar nur wegen Manipulationen. Alles in allem ein eindrucksvolles Referendum, das harte Auseinandersetzungen erwarten lässt.

Doch sollte sich niemand täuschen. Der Machiavellist Erdogan mag derzeit konziliant klingen, aber er wird einen gnadenlosen Kampf gegen die Rathäuser der Opposition beginnen, womöglich – wie angedroht – unliebsame Bürgermeister durch linientreue Staatsverwalter ersetzen. Er verliert zwar wichtige Einnahmequellen für sein Klientelsystem, doch ein neues Gesetz unterstellt die Gemeindebudgets komplett der Regierung. Damit kann Erdogan missliebigen Städten den Geldhahn zudrehen und sie zum Beispiel im Müll ersticken lassen.

Die Demokratie in der Türkei ist nicht verloren

Immerhin zeigt der Stimmungstest vom Sonntag, dass die Demokratie in der Türkei nicht verloren ist. In den nächsten Monaten wird sich zeigen, was die neue Geschlossenheit der Opposition wert ist. Der Gewinn der Rathäuser in der Westtürkei öffnet vor allem der CHP Möglichkeiten. Mit dem selbstbewussten Sieger von Istanbul, Ekrem Imamoglu, hat sie einen überraschend mutigen, nicht korrupten, auch für Konservative attraktiven Kandidaten zu bieten. „Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei“, sagte Erdogan im Wahlkampf. Damit beginnt jetzt der Kampf um die Präsidentschaft, und es wird sich zeigen, wie verwundbar der Autokrat wirklich ist. Wer ihn kennt, weiß: Er wird sich mit aller Kraft an die Macht klammern.