Professor Christopher Clark, Sie wurden in Sydney geboren. Da liegt preußische Geschichte nicht unbedingt auf der Hand. Woher kommt Ihr Interesse für diese Zeit?

Clark: Ursprünglich wollte ich mittelalterliche Geschichte studieren und habe mich um ein Stipendium in Deutschland beworben. Mit dem bin ich damals nach Berlin gegangen. Das Studium hat aus verschiedenen Gründen nicht richtig funktioniert, doch ich lernte die Stadt gut kennen. Damals lebte man in Westberlin ja noch innerhalb der Mauer. Es war eine eigenartige, faszinierende kleine Stadt, die viel Dörfliches hatte. Damals entdecke ich für mich die europäische Moderne. Sie ist in Berlin hochinteressant und hat viele Schichten. Man sah noch die Spuren des Zweien Weltkriegs und wenn man über die Grenzübergänge in den östlichen Kern der Stadt fuhr, lernte man das alte Preußen kennen. In Ostberlin war das 18. Jahrhundert sehr stark vorhanden. Beim Forum Fridericianum am Bebelplatz in Mitte sah man die schöne Geometrie dieses alten Berlins. Ich habe auch Theodor Fontane gelesen und über ihn sowie die Stadt kam ich darauf, dass dieses Staatswesen Preußen nicht nur eine Armee sondern auch eine Seele hatte. Und die wollte ich ein bisschen kennenlernen.

Sie haben die Seele auch privat kennengelernt...

Clark: Ja, obwohl meine damalige Freundin und heutige Frau keine Preußin ist. Ihre Familie stammt einerseits aus Sachsen und andererseits aus Bremen. Auf beiden Seiten ist man Preußen gegenüber eher skeptisch.

Sie befassen sich in ihrem Buch „Von Zeit und Macht“ mit dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, Preußenkönig Friedrich II, mit dem deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck und den Nationalsozialisten. Das klingt zunächst nach reiner preußischer Geschichte. Sie ergründen die Figuren aber auch für eine Inspektion der Gegenwart. Was war der Ausgangspunkt ihrer Überlegung?

Clark: Es entstand aus dem Gefühl, dass wir in einer Zeit heftiger, zeitlicher Manipulationen leben. Man spürt überall eine Verunsicherung, wie die Zeitlandschaft der zeitgenössischen Welt beschaffen sein soll. Das ist natürlich umstritten. Man hat das Gefühl, dass sich die Zeit wie eine Nadel bei einem defekten Kompass dreht. Man weiß nicht, wo es nach vorne und nach hinten geht. Viele alte Muster, wie der Glaube an die Moderne, sind weggefallen oder geschwächt. Schon als ich das Buch „Die Schlafwandler“ über Preußen schrieb, stach mir der Streit zwischen dem Großen Kurfürsten und seinen Landständen ins Auge.

Was ist Ihnen aufgefallen?

Clark: Schon kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg drängt Friedrich Wilhelm auf einen Staat, obwohl er das Wort noch nicht benutzt. Er will Machtinstrument um seine Person aufbauen. Um das zu erreichen, braucht er Steuern. Er begründet seine Ausgaben mit bevorstehenden Gefahren, die seinen Länder von außen drohen. Er argumentiert mit der Zukunft. Dagegen argumentieren die Landstände mit der Vergangenheit. Sie sagen: Nichts, was nicht schon da war, ist legitim. Es dürfe keine Erneuerung geben. Sind seien da, um das Althergekommene zu schützen und für die nächste Generation sicher und integer zu halten. Sie argumentieren aus einer Präferenz für die Kontinuität mit der Vergangenheit. Der Kurfürst sagt hingegen: Wir brauchen den Bruch. Der Staat müsse brechen mit der Tradition und der Vergangenheit, um nach vorne zu kommen und sich weiterzuentwickeln.

Sie erwähnen im Buch die wichtige Rolle des kurfürstlichen Biografen Samuel Pufendorf.

Clark: Durch Pufendorf bekommt das eine geschichtliche Dynamik. Zum ersten Mal wird eine richtige Geschichte Preußens geschrieben, die auf archivarischen Quellen basiert. Sie zeigt, wie dieser mächtige Fürst gegen die alten, inneren Mächte seines Landes einen Staat emporbringt. Wie er sich von diesen Beschränkungen befreit und es ermöglicht, dass Brandenburg sich regenerieren kann nach dem Dreißigjähren Krieg. Die Geschichte zeigt, wie der Kurfürst wegkommt von einer katastrophalen Vergangenheit. Das ist mir aufgefallen und ich dachte, vielleicht könnte man über eine Reihe von Zeitbögen zeigen, wie sich das jeweils ändert.
Sie verwenden ein physikalisches Prinzip von Albert Einstein und schreiben: „Wie die Schwerkraft das Licht, so beugt die Macht die Zeit".

Wie kann man sich das als Nicht-Historiker vorstellen?

Clark: In einem klugen Leserbrief stand, ich hätte nicht von „Beugung der Zeit“ sprechen dürfen sondern von der „Beugung des Zeitbewusstseins“. Das stimmt. Es geht nicht um Zeit an sich. Sie ist für Physiker nur eine Dimension ihrer Rechnungen, aber sie ist außerhalb dieses Bereichs ohne das menschliche Bewusstsein nicht denkbar. Natürlich geht es mir um das öffentliche, geteilte und gemeinsame Bewusstsein der Menschen für die Struktur und Beschaffenheit der Zeit. Ob sie sich bewegt oder fließt und in welche Richtung. Ob uns die Vergangenheit einholt oder die Zukunft auf uns einstürzt oder die Vergangenheit wieder wegfällt. Das sind alles Fragen, auf die man in verschiedenen Zeiten unterschiedliche Antworten gefunden hat. Mir ging es um die Beugung des Zeitbewusstseins. Ich habe das zwar mit der Physik verglichen, sehe aber dennoch kein naturwissenschaftliches Prinzip dahinter. Im Fall der Physik ist die Zeit eine physische Konstante. Bei den Menschen und den politischen Verhältnissen ist sie alles andere als das. Das Zeitbewusstsein ist den jeweiligen Bedingungen unterworfen.

Als Kernthese formulieren Sie, dass jedes Regime seine eigene Art hat, Geschichtsbewusstsein für sein Regieren zu nutzen. Wieso ist noch niemand vorher auf die Idee gekommen, das genau anzuschauen?

Clark: Es sind viele auf die Idee gekommen. Ich lese gerade ein spannendes Buch darüber, wie im dritten und zweiten Jahrhundert vor Christus im Seleukidenreich im alten Babylonien, die Regierung eine lineare Zeitrechnung eingeführt hat, die im Volk einen heftigen Widerstand hervorgerufen hat. Der Autor nennt das die Erfindung der linearen Zeit. Es wurde nicht nach den einzelnen Kaisern gerechnet, sondern eine abstrakte lineare Zeit erfunden, in der die Jahre immer weiter gezählt werden, egal welcher Kaiser an der Macht ist. Die Zeit ist also entrückt von den Strukturen der Menschen. Das war ein Instrument der Macht. Es hat immer wieder Versuche gegeben, den Kalender zu ändern. Nach der französischen Revolution spielte man mit dem Gedanken, eine zehntägige Woche einzuführen. Das hat aber nicht funktioniert. Auch Stalin wollte eine fünftägige Woche einführen, mit grünen, roten und gelben Tagen. Aber die Pläne waren so unpraktisch, dass sie wieder fallengelassen werden mussten. Regime haben immer wieder versucht, formell in die öffentliche Struktur der Zeit einzugreifen, um ihre Macht zu befestigen und zu vertiefen und den Griff auf die Imagination der Menschen zu verstärken.

Haben Sie solche Versuche für das Buch auch gefunden?

Clark: Das hat keines der vier Regime in Preußen oder Deutschland getan oder versucht. Trotzdem hatten diese Regimes immer eine eigene zeitliche Signatur, nach der sie sich bewegt haben. Sie diente auch zur Legitimation der Macht. Wenn der Kurfürst zum Beispiel sagte, dass in der unmittelbaren Zukunft große Katastrophen kommen würden, wenn man ihm die Steuern jetzt nicht gäbe. Er benutzt also eine bestimmte zeitliche Struktur in der Argumentation, um seine eigene Macht zu festigen. Wenn Friedrich der Große sagt, der Staat sei nicht mehr dieses vorwärtsstrebende Wesen, sondern er befände sich im Stillstand, dann hatte das zum Teil damit zu tun, dass er seinen Adel nicht weiter unterdrücken sondern wieder heben wollte. Sie seien schon so geschwächt durch seine Vorgänger. Friedrich drehte den Kompass der Sozialpolitik um und suchte eine Politik der Konservation. Er benutzte auch das Wort „Adelskonservation“. Er wollte den Adel praktisch als historisches Erbe erhalten, verstand sich als Teil dieses Adels und lebte auch privat auf sehr adelige Weise. Insofern hängen diese verschiedenen Zeitstrukturen doch mit der Legitimation von gewissen zeitgenössischen Interessen zusammen.

Dieser Linearität widersprechen Sie in ihrem Buch. Sie sprechen von oszillierenden Zeiten. Sie sagen, dass dieser Zeitfluss und auch die Macht selbst durch Destruktion eine Neuausrichtung erfährt.

Clark: Das ist für mich der Test. Wenn es nach großen Umbrüchen in den Machtstrukturen keinen Wandel geben würde in der Zeit, dann würde meine These wackelig werden. Man kann das aber immer wieder feststellen. Im China des 19. Jahrhunderts kam es zu großen Tumulten, bei denen die 1848er-Revolution in Europa wie ein Spaziergang im Park aussieht. Etwa der Taiping-Aufstand von 1851 bis 1864 in China, wo 20 Millionen Menschen starben. Diese immensen Aufstände brachten eine Änderung in der wahrnehmbaren Struktur der Zeit hervor. Es kam zu Versuchen, die chinesische Geschichte linear zu verstehen. Man sah die Vergangenheit als einen Tresor für gute Beispielen. Dieses Bild wird heute abgelehnt. Stattdessen sagt man in China, man wolle nach westlichem Muster, linear Geschichte sich fortentwickeln lassen. Das ist ein Ergebnis dieser Erschütterung der kaiserlichen Macht in China.

Lassen sich Ihre deutschen Beobachtungen also weltweit transferieren?

Clark: In Deutschland hängen diese unterschiedlichen zeitlichen Regime zum Teil damit zusammen, dass die deutsche Geschichte immer wieder so stark durch politische Ereignisse aufgewühlt worden ist. Der große Kurfürst steht im Schatten des Dreißigjährigen Krieges, er empfindet noch die Nachwehen dieses großen Konflikts. Friedrich der Große ebenfalls, denn sein Testament fängt mit den Worten an: „Überall, wo ich schaue, sehe ich noch die Spuren dieses schrecklichen Krieges.“ Bei Bismarck hängt es noch mit der 48er-Revolution zusammen. Man denkt bei ihm hauptsächlich an eine reaktionäre Figur. Er ist, wie es der Bismarck-Biograf Lothar Gall so schön einprägsam beschrieben hat, der „weiße Revolutionär“. Denn seine ganze Karriere, sein Ich, fußt auf diesem Aufstand des mittleren 19. Jahrhunderts. Er gibt es offen zu und er muss damit leben und fertig werden. Die Nazis sind die Erben einer Krise des traditionellen Geschichtsbewusstseins des Kaiserreichs.

Ist es eine ähnliche Disruption, die wir aktuell erleben?

Clark: Deswegen kam mir die Idee für dieses Buch. Die Frage, ob Geschichte linear ist oder nicht, ist natürlich auch eine Frage der Ideologie. Ich denke schon seit 20 Jahren über diese Zeitproblematik nach und dabei an die großartigen Arbeiten des Historikers Rainhard Koselleck. Ich wäre ohne seine Bücher wie „Vergangene Zukunft“ nicht auf dieses Thema gekommen. Ihn interessierte die Frage, wie das Zeitgefühl in der Moderne ankommt? Was bringt uns dorthin? Bei mir sieht dieses Modell anders aus. Es ist eine Oszillation zwischen verschiedenen Zeitmustern. Gerade das erleben wir heute. In den 50ern und 60ern sprach man viel von der Moderne und in den 80ern von der Postmoderne. Aber das war nur der Beweis, dass wir kein besseres Wort hatten.

Sie erwähnen ja auch den Historiker Francis Fukuyama und sein Buch „Das Ende der Geschichte“.

Clark: Fukuyama meinte, die Moderne habe sich erfüllt. Wir seien damit am Ende der Moderne und es würde ewig gleichbleiben. Damit konnte die Hegelsche Linearität noch erhalten bleiben in diesem Stillstand und Endzustand. Nun ist es aber anders geworden und man lehnt dieses Modell vollständig ab. Man meint, die Moderne gelte gar nicht mehr als Zeitstruktur. Es gibt vielleicht gar keine Zukunft. Wenn sich die schlimmsten Prognosen zum Klimawandel bewahrheiten, dann gibt es in der Tat überhaupt keine Zukunft irgendwelcher Art.

Daraus resultiert die politische Orientierungslosigkeit?

Clark: Überall spürt man die Erschöpfung der Zukunft. In den liberalen Demokratien Westeuropas aber auch in Putins Russland gibt es eine Zukunftslosigkeit. Das einzige Land, in dem man von einer starken Zukunftsträchtigkeit sprechen kann, ist China. Dort hat Xi Jinpin das so genannte „Xi Jinping’sche Denken“ in sehr großen Zeiträumen entwickelt, die in die nächsten einhundert bis zweihundert Jahre hineinreichen. Dort wird die heutige Epoche nicht „Zeit nach dem Kalten Krieg“ oder „Post Cold War“ sondern „Epoche strategischer Möglichkeiten“ genannt.

Warum schauen wir gerade so gerne in die Vergangenheit?

Clark: Weil wir nicht an die Zukunft glauben. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat bei sich zu Hause so viele Probleme. Das Interessante an ihm ist, dass er genau das angesprochen hat. Er hat gesagt: Europa ist unsere Zukunft. Es ist der Horizont, der uns eine Zukunft gewährleistet. Wenn wir uns einfach nur hinsetzen und warten, bis sich alles verwirklicht, wird die Vergangenheit die Gegenwart einholen. Gerade das ist es, was die Populisten tun wollen. Sie wollen alte Zukünfte ausschalten und uns stattdessen neue fingierte Vergangenheiten aufzwingen.

Sie vergleichen die aktuelle Zerrissenheit in der EU mit dem Großen Kurfürsten, der die Macht in einer Person bündelte, um den Staat zu retten. Gibt es tatsächlich Parallelen?

Clark: Es gibt Parallelen in den Argumenten und sogar in der Wortwahl.

Dann müsste man die Souveränität aufladen und Macht in einer Person bündeln. Das würde aber heißen, dass man in der EU noch enger zusammenrücken müsste und im Extremfall noch mehr Souveränität an Brüssel abgeben.

Clark: Wenn man das nur an einem Ort lokalisiert und dann nur Brüssel sagt, wird es natürlich problematisch.

Damals hatte der Kurfürst das Machtzentrum Berlin, heute gibt es das Machtzentrum Brüssel.

Clark: Das Machtzentrum müsste nicht nur in Brüssel lokalisiert werden. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen haben wir ein Vorbild, wo Macht nicht zentralisiert war. Die verschiedenen Gerichte des Reichs waren verteilt, der Reichstag fand in einer anderen Stadt statt und der kaiserliche Hof war in Wien. Da war alles dezentralisiert und verteilt. Man kann sich das auch für Europa so vorstellen. Lediglich die Struktur muss rigoros sein. In einer rigorosen, föderalen Struktur – wobei es nicht meine Aufgabe ist, den Europäern etwas zu empfehlen - läge ein Weg nach vorne. Wie genau dieses Europa aussieht und ob es ein größeres Brüssel ist oder etwas anderes, bleibt den Entscheidungsträger überlassen. Das Thema Souveränität ist dabei wichtig. Das war auch ein zentrales Signal von Macron, dass er dieses Wort verwendet hat. In England haben es die Brexit-Befürworter gepachtet und betonen, „Souveränität“ stehe gegen die EU. Macron aber sagt, die EU muss an ihre eigene Souveränität denken und für sie kämpfen. Das ist aus historischer Sicht sicherlich ein Weg in die Zukunft.

In Österreich haben wir derzeit einen Kanzler, der bewusst mit alten Gewohnheiten bricht. Weg von der Neutralität und der Sozialpartnerschaft, die ja Lehren aus den Jahren 1938 bis 1945 waren. Gibt es einen Vergleich zum Großen Kurfürsten, einem der aufbricht und sagt, ich löse mich von alten Strukturen?

Clark: Durchaus. Ich sehe die Erzählart über Sebastian Kurz, er sei ein Populist und Reaktionär, inzwischen schon skeptisch. Ich glaube auch nicht, dass er das ist. Er ist etwas viel Komplexeres. Er ist auch sehr intelligent, was man in den Medien nicht unbedingt zu lesen bekam. Aber leider weiß ich nicht genug über die Konturen seines Zukunftsbildes. Ich weiß nicht, wohin er will. Aber er ist ein sehr geschickter und intelligenter Politiker.

Auf der einen Seite koaliert er mit einer Partei, die stark rückwärtsgewandt ist, die sich an die gute, alte Zeit erinnern möchte. Gleichzeitig bricht er bewusst mit den Traditionen seiner alten konservativen Partei, mit dieser Reformmüdigkeit im Land, mit dem ewigen Ausgleich, den man finden muss und will dagegen eine neue Perspektive setzen.

Clark: Er ist in einer ganz anderen Situation als der Große Kurfürst. Er ist eher in einer Situation wie Bismarck. Bismarck musste mit Vergangenheitskräften arbeiten und man meinte, die Konservativen wären seine Haus-Partei. Aber er hat sie immer wieder im Stich gelassen, hat immer wieder mit anderen Parteien gemeinsame Sache gemacht. Sogar mit den Nationalliberalen und Sozialdemokraten hat er gesprochen, natürlich hinter geschlossenen Türen. Aber er hat viele Blätter aus dem Buch der Sozialdemokratie genommen, vor allem was den Sozialstaat betrifft. Also insofern war das auch einer, der mit einer angeblich konservativen Identität firmiert, aber nach nichtkonservativen Zielen strebt.

Kurz bekennt sich zu Europa, setzt aber auf Dezentralität.

Clark: Man darf das Projekt EU nicht daran scheitern lassen, dass sich die Leute nicht über die präzise Gestalt einigen können. Wenn es in der Föderalisierung gewisse Rückschritte geben muss, kann das gut geschehen. Die Hauptsache ist, man bekommt wieder ein Bild von der Zukunft. Im Moment ist es so wie bei einem Schneegestöber ohne Scheibenwischer, man sieht nicht nach vorne. Es gibt nur Querelen. Wenn man ein Bild von der Zukunft hätte, wüsste man wieder wie die Fahrtrichtung aussieht.

Aber ist das nicht das Dilemma einer Demokratie, eines Zusammenschlusses von vielen Stimmen, die alle zu Wort kommen müssen. Friedrich II, der Kurfürst, Bismarck, die Nazis konnten doch klarer und stärker vorgeben, wie ihre Perspektive aussieht.

Clark: Ja, das stimmt.

Selbst starke Führungspolitiker wie Donald Trump, Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdogan bemühen eher die Vergangenheit.

Clark: Den Demokratien fällt es schwer, ein konsensfähiges Bild zu entwerfen - nicht nur von der Zukunft sondern auch von der Gegenwart. Vor allem ist die Politik einer Demokratie langsam, nicht besonders transparent und auch langweilig. Das ist auch eine Frage der Zeitlichkeit. Bei Putin und Erdogan werden sehr schnell Befehle und Initiativen aus dem Zentrum in Kraft gesetzt. In Amerika ist es eher zu einer Divergenz gekommen, zwischen einer zu schnellen Politik des Weißen Hauses – auch durch die Nutzung von Twitter durch Trump - und der langsamen, überlegten Politik der altherkömmlichen Demokratie. Das ist eine Gefahr.

Sind Ihre deutschen Beispiele weltweit übertragbar?

Clark: Methodologisch auf jeden Fall. Man kann diese Operationen bei jedem Regime vornehmen. Es gibt auch eine interessante Studie von Roman Kakowski über die Zeitlichkeit des tschechischen kommunistischen Regimes nach 1945, die zeigt, wie die wahrgenommene Zeit, das Zeitgefühl der öffentlichen Gesellschaft und der privaten Personen in den 60er und 70er Jahren auseinandergeht mit fatalen Folgen für das Regime. Deutschland ist deshalb ein gutes Labor für diese Arbeit, weil es immer wieder zu Umbrüchen gekommen ist.

Woran liegt es, dass wir am Ende einer immerwährenden Fortentwicklung der Demokratie zu sein scheinen?

Clark: Zum Teil an der Überholung der Demokratie durch die sozialen Medien. Sie sind schneller, wirksamer als traditionelle Medien und erreichen die Leute effektiver. Sie fördern besser eine Art der Meinungsbildung, die mit den deliberativen Prozessen der Demokratie wenig gemein hat. Die sich losgesagt und entkoppelt hat von jeder Faktizität und jedem Bedarf nach empirischer Sicherheit. Es gibt aber auch weitere Gründe. Perry Anderson hat einen interessanten Aufsatz über das „Ende der Geschichte“ geschrieben. Darin interpretiert er Fukuyama neu. Wir könnten uns nicht freuen, weil wir am Ende der Geschichte und in der Erfüllung angekommen sind. Es sei eher so, dass der Wegfall des großen, welthistorischen Gegners uns auf Dauer schwächen wird. Die liberal Demokratie hat sich über diesen Gegensatz zum Kommunismus definiert. Mit dem Kollaps der Sowjetunion fiel diese binäre Struktur weg und wir blieben ohne Gegner zurück. Uns bleibt nur Schattenboxen übrig.

Inwiefern verändert die digitale Entwicklung die Geschichtsschreibung?

Clark: Jürgen Habermas hat schon 1961 in „Der Strukturwandel der Öffentlichkeit“ diesen Prozess beschrieben. Man kann heute wieder von einem Strukturwandel mit ähnlicher Reichweite sprechen. Es geht aber diesmal in die entgegengesetzte Richtung. Was nach Habermas im späten 17., 18. und 19. Jahrhundert entstand, war eine bürgerliche Öffentlichkeit. Probleme wurden durch ein politisches Gespräch gemeinsam gelöst. Man fand eine Art, kritisch miteinander zu diskutieren. Auch öffentlich, weil man den Gesprächspartner nicht unbedingt persönlich kennen musste. Über das Gespräch und über die Diskussion entstand ein Prozess, der politischen Entscheidungsfindung ermöglichte und ihren Erfolg bekundete. Gerade diese konsensgetragene Öffentlichkeit ist im Moment gefährdet. Es gibt sie kaum mehr. In England gibt es kein nationales Publikum für das Fernsehen mehr. Die Leute schauen einzelne Kanäle und wählen eigene Mischungen aus Online-Quellen. Damit fällt die große Öffentlichkeit auseinander und zerbricht. Insofern spielen die digitalen Medien eine große Rolle.

Was hat sich dabei verändert?

Clark: Was wir am meisten auffällt, wenn man sich Youtube-Videos ansieht, sind brutalste Bemerkungen darunter. Das sind richtig schlimme Gewaltfantasien, Hass, Ressentiments, Vorurteile schlimmster Art. Es ist interessant im Vergleich, wenn man sich die Verfassungsregeln der Lesegesellschaften und der Logen des 18. Jahrhunderts anschaut. Dort steht, man darf nicht mit lauter Stimme sprechen, keine böse Worte verwenden, sich nicht beschimpfen. Das ist alles weggefallen. Wir hielten diese Zivilität für ein Ornament, aber eigentlich ist sie eine tragende Säule der Öffentlichkeit und sie ist fast vollkommen weg. Denn Menschen wie Trump verkörpern den Triumph der neuen Unhöflichkeit in der Politik selbst. Sie ist nicht mehr der Barbar an der Pforte, sie sind jetzt drinnen.