Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Orbán, sehr geehrte Führer der Opposition, liebe Mitbürger!

Es ist zur lieben Gewohnheit geworden, am Anfang des Jahres eine Rede zur Lage der Nation zu halten. Ministerpräsident Orbán begann damit vor 21 Jahren, später übernahmen auch die Parteichefs der Opposition diese Gepflogenheit. Es ist offenbar doch nicht alles schlecht, was von Herrn Orbán kommt.

Üblicherweise läuft das so ab: Der Redner würdigt die Leistungen der Vergangenheit, skizziert die aktuelle Lage und formuliert Ziele für die Zukunft. Dabei stellt er sich selbst in das beste Licht und macht sich lustig über seine politischen Gegner, die er zugleich als große Gefahr für Land und Nation darstellt. Die wiederum sagen vernichtende Dinge über die Rede.

Verehrte Damen und Herren!
Ich möchte eine andere Rede halten. Die Regierung hat in den letzten Jahren vieles richtig gemacht, was man selbst bei der Opposition zuweilen anerkennt, wenn die Kameras gerade ausgeschaltet sind. Und manches läuft falsch, was man sogar im Regierungslager zuweilen zugibt, wenn die Kameras gerade ausgeschaltet sind. Es gibt viel, worüber wir uns einig sein können, es aber nicht ohne Weiteres zugeben. Ich möchte eine Rede darüber halten, was wir alle als gut und was wir alle als Problem empfinden können. Und darüber, wie wir alle uns einen Weg in die Zukunft vorstellen können.

Ministerpräsident Orbán hat einen neuen Stil in der Politik eingeführt, der weit über die Landesgrenzen hinweg nach Europa ausstrahlt. Es ist viel Gutes dabei. Er brach mit den Tabus der politischen Korrektheit, erkannte und benannte Probleme, die zuvor von der politischen Klasse nicht erkannt oder zumindest nicht benannt wurden. Er führte einen neuen Geist radikaler Problemlösung ein, wo andere immer nur resigniert sagten, das könne man sowieso nicht ändern.

Illegale Migration könne man sowieso nicht stoppen, sagten sie, aber Ministerpräsident Orbán sagte: Doch, man kann. Wenn man es gar nicht erst versucht, dann natürlich nicht. Heute denken auch in der Opposition die meisten, dass der Grenzzaun eine gute Idee war.

Ungarns und Europas Geburtenkatastrophe, so sagten alle, sei unumkehrbar, da könne man kaum etwas tun. Die demografische Zeitbombe sei nur durch Einwanderung zu entschärfen. Ungarns Regierung sagt auch hier: Wenn man es nicht versucht, geht es natürlich nicht. Lasst es uns aber versuchen. Dieser Ton ist einzigartig in Europa. Ob es gelingt, das wird sich erst in vielen Jahren zeigen. Aber dass es gut und richtig ist, es zumindest zu versuchen, daran kann eigentlich niemand zweifeln. Wenn schon Migration, dann lieber aus solchen Ländern, deren Kultur der unseren möglichst nah steht – auch das ist für mich ein nachvollziehbarer Gedanke, der aber im Westen Europas noch nicht einmal angedacht wird. Migration steuern und gestalten, um einerseits der Wirtschaft zu helfen, andererseits aber die Gesellschaft vor allzu großen Spannungen zu bewahren – das ist verantwortungsbewusstes Regieren.

Als westliche Banken mit raffinierter Werbung das halbe Land überredeten, Devisenkredite aufzunehmen, und dann die Wechselkurse einbrachen, drohte Ungarns Familien und mittelständischen Unternehmen ein regelrechter Kollaps. Auch hier gehörte Mut dazu, sich vom liberalen Credo loszusagen und einen Zwangsumtausch dieser Kredite zu einem erträglicheren Wechselkurs zu verfügen. Ungarn stünde heute sehr viel schlechter da, wenn die Regierung nicht gegen den Willen und den Einfluss der großen westlichen Banken die Interessen der Bürger geschützt hätte.

Unkonventionelles, radikales Denken, das ist neu in der ungarischen Politik. Es fehlte öfter in der ungarischen Geschichte, als wir in Weltkriege stolperten, die wir gar nicht wollten, weil wir anderen folgten, statt mit dem eigenen Kopf zu denken.

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus herrschte bei uns eine Art Konsens, einfach alles den Westeuropäern nachzumachen, ohne selbst nachzudenken. So entstanden unsere Probleme mit der Armut der Roma – die allermeisten wurden nach der Wende arbeitslos, und man schien zu denken, dass der freie Markt das schon richten werde. Das passierte aber nicht. Das Roma-Integrationsprogramm ab 2011 war der erste umfassende Versuch einer ungarischen Regierung, dieses Problem zu lösen. Wir können uns über die Details streiten und über Erfolg und Misserfolg – aber dass dies ein richtiger und wichtiger Schritt war, kann niemand anfechten. Heute gibt es doppelt so viele Roma-Studenten wie vor acht Jahren.

Meine Damen und Herren, zu Beginn des jugoslawischen Bürgerkrieges bombardierte die jugoslawische Luftwaffe den ungarischen Grenzort Barcs, offenbar aus Versehen. Hätte aber das Milo(s)evi(´c)-Regime Ungarn tatsächlich angreifen wollen, weil wir damals die Kroaten unterstützten, wären wir allein gewesen. Wir gehörten weder zur EU noch zur Nato. Dass wir heute vollwertige Partner in beiden sind, ist das Verdienst aller politischen Kräfte des Landes. Die Mitgliedschaft in EU und Nato war und bleibt Staatsräson.

Auch die jetzige Regierung sieht das so, hat aber einen neuen Ton eingeführt. Es ist grundsätzlich gut: den eigenen Spielraum notfalls mit harten Bandagen auszuweiten in der Union und der Allianz, um die Interessen des Landes besser durchzusetzen. In diesem Sinne hat Ungarn auch die ostmitteleuropäische Kooperation im Rahmen der Visegrád-Gruppe vorangetrieben. Es ist eine der aufregendsten Entwicklungen in Europa – unsere Region, unser Land ist erstmals seit dem Weltkrieg wieder ein echter Akteur in der europäischen Politik. Es ist die politische Wiedergeburt Mitteleuropas. Die Wirtschaft in unserer Region wächst seit 2012 doppelt so schnell wie im Rest der Union. Irgendetwas machen wir richtig.

Wir bringen frischen Wind in die EU, stellen unkonventionelle Fragen, sind zum Reformkatalysator geworden. Die Debatte um die Migrationspolitik – Grenzschutz statt grenzenlose Willkommenskultur – haben wir intellektuell gewonnen.

Aber zuweilen wird es seltsam. Etwa wenn unser Ministerpräsident den russischen Präsidenten zweimal im Jahr trifft, aber nur selten die Regierungschefs der führenden westlichen Länder. Oder wenn wir über die EU in einem Ton sprechen, als komme von dort alles Böse und Dunkle, aber über Russland und China nur im Ton größten Respekts reden. Vielleicht sind unsere Verankerung im Westen und die Vorteile, die wir daraus ziehen, für uns so selbstverständlich geworden, dass wir sie nicht mehr pflegen zu müssen meinen. Diktatoren zu hofieren hingegen bringt vielleicht Extra-Profit. Wir müssen aufpassen, dass wir da keine Saat säen, die später bittere Frucht trägt.

Unserer Regierung wird vorgeworfen, sie sei autokratisch, gar diktatorisch, durch und durch korrupt. Das ist stark übertrieben und wir alle wissen das, auch diejenigen in der Opposition, die das sagen. Es gibt freie Wahlen und trotz einer recht politisch anmutenden Umgestaltung des Medienmarktes immer noch eine wirklich freie Presse. Die Justiz ist alles in allem immer noch unabhängig. Man kann auf märchenhafte Weise reich werden, wenn man sich gut stellt mit der Regierung, aber es gibt immer noch einen funktionierenden freien Markt.

Es stimmt andererseits, dass die Machtstrukturen im Land inzwischen so zentralisiert sind, so sehr auf die Person des Ministerpräsidenten zugeschnitten, dass das allmählich zum Problem werden kann. Sein System bringt Stabilität und er betont oft und gerne, dass Stabilität ein großer Wert ist. Aber was ist, wenn er eines Tages auf einer Bananenschale ausrutscht? Wie stabil ist das Land dann? Ungarn braucht starke, unabhängige Institutionen, wenn es auf Dauer eine gut funktionierende, moderne und erfolgreiche Demokratie sein will.