Friedrich Nietzsches Konzept der ewigen Wiederkunft des Gleichen scheint sich 2019 in der Verteidigungspolitik Moskaus und Washingtons widerzuspiegeln: Das Gespenst der nuklearen Aufrüstung ist zurück. Ronald Reagans Idee eines Weltraumraketenabwehrschirmes („Star Wars“), der russische Atomraketen im All zerstört, ist im Pentagon wieder in Mode. Auch US-amerikanische und russische landgestützte atomare Mittelstreckenraketen könnten in Europa durch den seit Tagen vermuteten und nun offiziell verkündeten Ausstieg Washingtons aus dem Abrüstungsabkommen über nukleare Mittelstreckensysteme INF (Intermediate Range Nuclear Forces) erstmalig seit 30 Jahren wieder Einzug halten.

Der INF-Vertrag über die Eliminierung landgestützter atomarer sowie konventioneller Mittelstreckenraketen kam 1987 zustande während einer der gefährlichsten Perioden des Kalten Krieges. Die Sowjetunion begann in den 1970er-und 80er-Jahren mit der Stationierung der SS-20, einer Mittelstreckenrakete, die mit einer Vorwarnzeit unter sechs Minuten ideal für den nuklearen Erstschlag geeignet war. Die Nato reagierte mit dem sogenannten Doppelbeschluss, der die Stationierung von US-amerikanischen Pershing-II-Raketen in Deutschland vorsah.

Angst stieg stetig

Durch die Einführung der neuen Raketenwaffen stieg die Angst eines nuklearen Schlagabtauschs der Supermächte auf europäischem Boden stetig. Hunderttausende protestierten in Europas Hauptstädten gegen die Raketen. In Deutschland stürzte der damalige Kanzler Helmut Schmidt, ein Verfechter der Stationierung der Raketen, aufgrund des Nato-Doppelbeschlusses. Letztendlich jedoch erkannten US-Präsident Ronald Reagan und der sowjetische Staatschef Michael Gorbatschow, dass die atomaren Geister, die sie riefen, die gesamte Welt in ein nukleares Armageddon stürzen könnten und dem Rüstungswettlauf Einhalt geboten werden muss.

Washingtoner Vertrag von 1987

Der Washingtoner Vertrag von 1987 war die erste konkrete Maßnahme dieser Abrüstungsbestrebungen. Er verbat der Sowjetunion und der USA das Testen, die Produktion und den Besitz landgestützter ballistischer Raketen sowie Marschflugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern. Der Vertrag, der nun im August 2019 endgültig auslaufen wird, war bis dato einer der Grundpfeiler der nuklearen Abrüstungspolitik Europas und trug maßgeblich zum Ende des Kalten Krieges bei.

Mehrmals Vertragsverletzungen

Weder Washington noch Moskau zeigten jedoch in den Vorjahren Interesse an der Aufrechterhaltung des INF-Regimes und bezichtigten sich gegenseitig – verstärkt seit dem Beginn des Ukraine-Konflikts 2014 – mehrmals verschiedener Vertragsverletzungen. Wie US-Außenminister Mike Pompeo nun unterstrich, sehen die USA durch den russischen Marschflugkörper SSC-8 einen Bruch des Abkommens, Moskau hingegen durch die Stationierung der Aegis-Ashore-Raketenabwehr in Osteuropa, die, laut Kreml, schnell in eine Mittelstrecken-Abschussplattform verwandelt werden kann, welches aber vehement vom Pentagon bestritten wird.

Ende kommt gelegen

Für beide Seiten kommt das Vertragsende aus militärischer Sicht gelegen. Die Vereinigten Staaten erhoffen sich dadurch vor allem einen militärischen Vorteil gegenüber China in Ostasien. China, nicht gebunden an den Vertrag, verfügt über das größte Mittelstreckenraketenarsenal der Welt, das die US-Streitkräfte sowie Amerikas Alliierte in ihrem Handlungsspielraum einschränkt. Durch die Stationierung eigener landgestützter Mittelstreckenraketen hofft man, Pekings vermeintliche militärische Expansionsbestrebungen abzuschrecken. Der aktuelle nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Donald Trump, John Bolton, trat bereits in den 2000ern unter dem damaligen Präsidenten George W. Bush aus diesem Grund für einen Vertragsausstieg ein.

Ideales Mittel und Zugzwang

Moskau hingegen sieht Mittelstreckenwaffen als ideales Mittel, die Nordatlantische Militärallianz zu entzweien, indem sie Europa und die USA in zwei Sicherheitszonen teilen und voneinander abkoppeln. Die Raketen können Ziele in Europa, nicht jedoch die USA treffen. Im Fall eines nuklearen Konflikts würde Moskau Washington unter Zugzwang stellen, eigene Ziele einem russischen nuklearen Gegenschlag preiszugeben.

Würden die USA im Konfliktfall wirklich bereit sein, Washington für Paris zu opfern? Mittelstreckenraketen eignen sich also optimal zur Entblößung der US-Sicherheitsgarantien in Europa. Für Europa bedeutet damit das Ende des Vertrages den Beginn einer neuen Rüstungsspirale und eine Schwächung der Nato. Diese Schwächung könnte wiederum die EU-Bestrebungen, eine engere Verteidigungspolitik zu forcieren, negativ beeinflussen. Mit dem Wegfall des INF-Vertrages sind die US-Amerikaner wieder frei, landgestützte Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren.

Die Frage ist jedoch: Wo genau? Westeuropa scheint ausgeschlossen. Kein deutscher Kanzler würde einer Stationierung von Atomraketen zustimmen. Osteuropa hingegen, etwa Polen, wo die Angst vor einer russischen Bedrohung größer ist als in Westeuropa, scheint einer Stationierung viel aufgeschlossener gegenüberzustehen. Würde Berlin aber eine Stationierung ablehnen und Warschau zustimmen, wäre die Bündniseinigkeit dahin. Gröbere politische Verstimmungen unter den europäischen Alliierten wären vorprogrammiert, die auch abseits der Nato (zum Beispiel auf EU-Ebene) einen negativen Einfluss auf eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik haben könnten. Das alles würde Russlands Ziel, Nato und EU zu schwächen, zugutekommen.