Herr Klaus, im Mai finden die Europawahlen statt. Es wird ein Urnengang in Krisenzeiten. Mit welchen Gefühlen blicken Sie ihm entgegen?
VÁCLAV KLAUS: Moment! Sie sprechen von E u r o p a wahlen. Aber allein das ist schon falsch. Ich dachte, wir wollen hier über die Europäische Union reden.
Was ist das Problem?
Europa und die EU sind zwei völlig verschiedene Realitäten. Die EU ist ein menschengemachtes Projekt, ersonnen von Bürokraten. Europa aber ist eine kulturelle und zivilisatorische Entität. Nur die heutigen Eurokraten wollen beides ständig miteinander vermischen.
Sie tun ja so, als ob das eine mit dem anderen nichts zu tun hat.
Doch, doch! Ich bin ein Europäer, lebe aber leider in der EU.
Ist die EU als Antwort auf zwei Weltkriege nicht doch mehr als ein zentralistisches Konstrukt?
Wenn dem so wäre, dann ist es die falsche Antwort. Robert Schuman war links, fast ein Kommunist. Diese Leute werde ich in meinen Reden nie erwähnen. Sie wollten eine zentral organisierte Gemeinschaft in Europa schaffen. Das lehne ich zu hundert Prozent ab. Das ist eine tragische, falsche Idee, die uns in die heutige Krise geführt hat.
Das klingt eigenartig aus dem Mund des Mannes, der Tschechien mit in die EU geführt hat. War der Beitritt ein Fehler?
Wir mussten zur EU. Ich habe damals als Ministerpräsident das Beitrittsgesuch unterschrieben. Wir hatten in den postkommunistischen Ländern die sehr radikale Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft durchzusetzen und keine Alternative. Leider mussten wir diesem Weg folgen. Aber ich wusste schon damals, dass es ein falscher Weg ist. Beim tschechischen Referendum über den EU-Beitritt habe ich dann dagegen gestimmt.
Hätte Tschechien heute eine Alternative zur EU?
Wenn man sich ansieht, wie die EU mit einem so großen Land wie Großbritannien umspringt, wie soll da ein so kleines Land wie Tschechien dagegenhalten?
Wie springt die EU mit dem Vereinigten Königreich um?
Die europäische Nomenklatura hatte bei den Brexit-Verhandlungen von Beginn an nur ein Ziel. Sie wollte die Briten bestrafen und erniedrigen.
Aber es sind die Briten, die hinauswollen. Muss es nicht einen Unterschied geben, ob man Mitglied im Klub ist oder nicht?
Die Briten waren unschuldig naiv. Sie haben geglaubt, dass sie ein kooperatives Spiel spielen. Brüssel dagegen hat die Verhandlungen absolut feindselig geführt. Ich vergleiche das gern mit der Abwicklung der Tschechoslowakei, die ich gegen meinen Willen organisieren musste. Der Unterschied zum Brexit war, dass wir mit der Slowakei zu einem positiven Ergebnis kommen wollten. Deshalb ist die Teilung der Tschechoslowakei historisch das unglaubliche Beispiel einer erfolgreichen Entwicklung.
Sie haben Deutschland und Frankreich in der Vorwoche für die Erneuerung ihres Freundschaftsvertrags gegeißelt. Was missfällt Ihnen daran?
Was die zwei europäischen Führungsfiguren, was Merkel und Macron da gemacht haben, ist absolut antieuropäisch. Mit dem Vertrag von Aachen soll ein paralleles europäisches Integrationsprojekt geschaffen werden, ein europäischer Superstaat. Das ist ein Musterbeispiel dafür, wie der europäische Gedanke liquidiert wird.
Ist nicht auch die Visegrád-Gruppe eine Parallelstruktur?
Leider nicht. Noch sind die Unterschiede zu groß. Ich war ja ganz am Beginn dabei. Damals hat die Gruppe davon geredet, die Folkloremusik zu fördern. Aber zwei fassbare Erfolge gibt es. Der eine war am Anfang die Freihandelszone zwischen ihren Mitgliedern. Das habe ich gemacht. Darauf folgten 20 Jahre Rhetorik. Bis 2015, als die Visegrád-Länder sich gegen Angela Merkel und ihre Willkommenskultur verteidigt haben. Das hat unsere Länder wirklich geeint.
Vor allem hat es auch die tiefe Kluft zwischen Ost und West offenbart, die Europa durchzieht.
Ja, es gibt in der Tat eine Kluft in Europa. Sie ist aber nicht geografischer Natur. Sie verläuft nicht zwischen Ost und West. Die Kluft, von der ich spreche, gibt es in ganz Europa von Italien über Österreich, Deutschland bis Holland, und sie trennt vernünftige Demokraten von Modernisten, Progressisten und Populisten wie Frau Merkel und anderen.
Sie werfen der EU einen aggressiven Multikulturalismus vor. Was meinen Sie genau damit?
Wir erleben heute, wie über Massenmigration die wichtigste Entität der modernen europäischen Geschichte attackiert wird. Das ist der Nationalstaat. Er ist die Basis von Europa seit dem Westfälischen Frieden im 17. Jahrhundert. Die Modernisten wollen ihn vernichten. Und die EU ist das Instrument dafür.
Was kann der Nationalstaat, was die EU nicht kann?
Der Nationalstaat ist nicht nur eine wichtige Ebene für verschiedene Entscheidungen. Wir brauchen ihn für das Gut, das wir, die wir 40 Jahre unter dem Kommunismus leben mussten, für das Wichtigste überhaupt halten: die Demokratie. Sie lässt sich nicht auf Ebene der EU verwirklichen. Denn dazu braucht man das Volk, den demos. Dieser existiert in Österreich, der Tschechischen Republik, in Ungarn und in Portugal, aber leider nicht in der EU. Und es wird ihn dort auch nie geben. Das ist auch der Grund, warum wir jetzt die Entdemokratisierung Europas infolge der Verträge von Maastricht und Lissabon erleben. Maastricht war der größte Irrtum, die Wende. Damals wurden die Weichen falsch gestellt. Davor war Europa eine Gemeinschaft souveräner Staaten. Seither ist es eine Union.
Aber kein Land in Europa könnte die großen globalen Herausforderungen allein bewältigen.
Das behaupten die Multikulturalisten, die Globalisten und Europäisten. In allen Textbüchern kann man nachlesen, dass ein Land wie Tschechien Schwierigkeiten mit China bekommen wird. Nur die Tschechische Republik ist kein wirtschaftliches Subjekt. Es ist absolut falsch, ökonomisch in nationalen Kategorien zu denken. Nicht Amerika hat Probleme in China, sondern Chrysler tut sich schwer, seine Autos dort abzusetzen.
Geht es Skoda gut, geht es vielen Tschechen gut, oder nicht?
Ja und nein. (S)koda ist wichtig für Tschechien. Aber unsere Wirtschaft ist viel stärker dezentralisiert als die anderer Länder in Osteuropa.
Sie sagten zu Beginn unseres Gesprächs, Sie seien Europäer. Was verstehen Sie darunter?
Ich kann mich nur an ein einziges Mal erinnern, dass ich gesagt habe, ich komme aus Europa. Das war vor 20 Jahren auf einer Konferenz in Vail in Amerika. Man hat mir für die Freizeit damals einen Skilehrer mitgegeben. Das war ein junger Mann mit Ohrring. Er hat mich gefragt, woher ich komme. Ich hatte das Gefühl, der weiß gar nicht, dass Tschechien existiert. Also habe ich ihm geantwortet: aus Europa. Die Wahrheit ist: Wir haben alle mehrere Identitäten, starke und schwache. Ich bin Prager, Tscheche und Mitteleuropäer. Krakau, Wien, Triest, Passau und Lemberg, diese Identität fühle ich sehr stark. Aber eine europäische Identität? Die fühle ich nicht. Das ist jetzt kein Angriff. Aber mit Portugal, Irland oder Dänemark verbindet mich nichts.
Was ist mit dem Abendland, dem jüdisch-christlichen Erbe, der Aufklärung? Ist das nichts?
Ja, aber es genügt nicht, um aus Europa eine staatliche Einheit zu schmieden. Die Heterogenität Europas ist zu groß. Deshalb schlage ich vor, die EU durch eine Organisation Europäischer Staaten zu ersetzen, deren Mitglieder bestmöglich kooperieren. Vergessen wir die EU. Beginnen wir etwas Neues!
Sie könnten auch klein anfangen und fürs Erste einmal bei den Europawahlen kandidieren.
Das Europäische Parlament ist kein echtes Parlament. Dort gibt es weder eine Regierungsmehrheit noch eine Opposition. Das ist ein Sandkasten für Kinder.
Marine Le Pen und Nigel Farage sitzen dort. Sind das Kinder?
Diese Leute haben in Straßburg etwas Positives bewirkt. Sie haben den Europäern mit ihren Reden die Augen geöffnet.
Die EU-Gegner arbeiten an einer breiten Allianz für die Europawahl. Verspüren Sie keine Lust, für Tschechien anzutreten?
Schön, wenn so eine Allianz wirklich zustande kommen sollte. Theoretisch könnte ich mich dafür engagieren. Aber ich bin nicht so begabt wie der Herr Farage und werde daher nicht so große Aufmerksamkeit hervorrufen. Vor allem aber bin ich ein alter Mann mit altmodischen und obsoleten Ideen.