Der libysche Ministerpräsident Fayez al-Sarraj ist am Montag zu Gast in Wien. Fast drei Jahre ist sein letzter Besuch in Wien her, damals nahm er an einer "Stabilisierungskonferenz" für das krisengebeutelte Libyen teil. Diesmal stehen allerdings die Themen Migration und wirtschaftliche Zusammenarbeit im Zentrum der Gespräche.
Am Nachmittag wird Sarraj, Chef der "Regierung der nationalen Einheit", im Inneren Burghof von Bundespräsident Alexander Van der Bellen mit militärischen Ehren empfangen. Nach einem Gespräch werden die beiden vor die Presse (15.15 Uhr) treten. Auch mit Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) ist zuvor ein Pressetermin (13.45 Uhr) geplant.
Machtvakuum
Wenig überraschend sind Migration und bilaterale bzw. wirtschaftliche Beziehungen die Hauptgesprächsthemen. Libyen ist für Europa vor allem in Sachen Migrations- und Asylpolitik ein wichtiger Partner, gilt es doch als eines der Haupttransitländer für Flüchtende aus Afrika auf dem Weg nach Europa. Ein nach dem Sturz des Langzeitmachthabers Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 entstandenes Machtvakuum machten sich über die vergangenen Jahre hinweg immer mehr Schlepper zunutze. Nach der Schließung der sogenannten Balkanroute wurden damit die "Mittelmeerroute" zum Hotspot und Libyen zum Hauptschauplatz der Flüchtlingsbewegungen.
Hochumstritten sind die libyschen Internierungslager. Hilfsorganisationen kritisieren die dortigen Zustände als "unmenschlich" und berichten von schweren Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Vergewaltigungen oder Versklavungen. Wie die Präsidentschaftskanzlei im Vorfeld auf APA-Anfrage mitteilte, will Van der Bellen auch die Situation in diesen "Flüchtlingslagern" ansprechen.
Menschenrechtsorganisationen kritisieren auch die Unterstützung der EU für die libysche Küstenwache, die ihre Such- und Rettungszone stetig ausweitet und damit die Seenotrettung von NGOs weitgehend unmöglich macht. Praktisch alle im Mittelmeer aufgegriffenen Personen werden somit zurück in eines der Internierungslager des ölreichen Wüstenstaates gebracht. Die EU trage damit dazu bei, dass Migranten "abgefangen und anschließend unrechtmäßig und misshandelt in Haft säßen", betonen Menschenrechtsorganisationen.
Kanzler Kurz betonte im Vorfeld des Besuches von Sarraj, dass er die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache noch weiter vertiefen wolle. Die Einheitsregierung in Tripolis werde "bestmöglich unterstützt". "Ein wichtiges gemeinsames Ziel ist es, die bereits eingeleitete Trendwende in der Migration noch weiter zu verfestigen", hieß es in einer Stellungnahme für die APA.
Unterschiedliche Interpretationen gibt es, was die Zahl der Flüchtlinge im Mittelmeer gibt. Kurz zeigte sich erfreut, dass es gelungen sei, das "massenhafte Ertrinken" im Mittelmeer zu reduzieren. Nach Ansicht des Migrationsexperten Gerald Knaus ist die Region jedoch noch immer die tödlichste Grenze der Welt. Mit 2.300 Toten habe es im vergangenen Jahr noch immer "sehr viel mehr Tote als vor fünf Jahren" gegeben, betonte der Erfinder des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei.
Die Situation in Libyen selbst wurde seit Gaddafis Sturz 2011 immer unübersichtlicher. Um die Macht im Land rivalisieren zwei Regierungen und zahlreiche Rebellengruppen. Die international anerkannte Regierung, der Sarraj vorsteht, beherrscht nur einen Teil des Landes. Ihre Autorität wird von einer Gegenregierung unter Kontrolle des abtrünnigen Generals Khalifa Haftar infrage gestellt, der vor allem den Osten des Landes (Tobruk) beherrscht. Zusätzlich kämpfen Milizen, Stämme und Jihadisten um die Kontrolle von Gebieten und der großen Ölvorkommen.
Es wird erwartet, dass in den kommenden Monaten eine "Nationale Konferenz" unter Vermittlung des UNO-Sondergesandten Ghassan Salame stattfindet, bei der eine Einigung über wichtige Fragen der politische Zukunft Libyens erarbeitet werden soll. Dabei wird wohl auch ein neuer Termin für die Wahlen diskutiert - sie mussten im Dezember angesichts der Sicherheitslage verschoben werden.
Libyen, das mit 1,76 Millionen Quadratkilometern zweimal so groß ist wie Frankreich, hat nur rund 6,4 Millionen Einwohner. Der krisengebeutelte Staat ist für Europa nicht nur in der Migrationspolitik und für die regionale und internationale Sicherheit von Bedeutung, sondern spielt auch in Sachen Energiepolitik eine wichtige Rolle. Wegen der reichen Erdöl- und Erdgasvorkommen galt der nordafrikanische Staat noch 2010 mit einem geschätzten Pro-Kopf-Einkommen von 12.000 US-Dollar (10.978,96 Euro) als reichstes afrikanisches Land. Auch der Ölkonzern OMV ist - mit kurzen Unterbrechungen - seit 1975 in Libyen aktiv.
Nach Ansicht des Leiters des Instituts für Friedenssicherung und Konfliktmanagement des Bundesheeres, Brigadier Walter Feichtinger, hat das Land jedenfalls "gute Karten für die Zukunft". Es sei einerseits aufgrund seiner Rohstoffe relativ reich, andererseits gebe es trotz aller internen Schwierigkeiten keine Abspaltungstendenzen. Wichtig sei, den politischen Prozess zu unterstützen und "Störfaktoren von außerhalb" zu unterbinden.