Nach mehr als 30 Jahren könnte das zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossene INF-Abrüstungsabkommen über nukleare Mittelstreckensysteme (Intermediate Range Nuclear Forces) bald Geschichte sein. Bis Anfang Februar hat US-Präsident Donald Trump Moskau Zeit gegeben, die Vorwürfe des Vertragsbruchs zu entkräften. Am Freitag setzten sich die NATO und Russland zu Gesprächen an einen Tisch.
Was ist der INF-Vertrag?
US-Präsident Ronald Reagan und der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow unterzeichnen gegen Ende des Kalten Kriegs im Jahr 1987 ein Abrüstungsabkommen mit dem Ziel, "die Gefahr eines für die ganze Menschheit verheerenden Atomkriegs" (Präambel) zu bannen. Verboten werden die Produktion, der Test und die Lagerung von landgestützten ballistischen Raketen und Marschflugkörpern mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern. Bis Mai 1991 wurden auf der amerikanischen Seite 846 Raketen des Typs Pershing I und II, auf sowjetischer Seite 1.846 Raketen des Typs SS20 zerstört. "Das war ein unglaubliches Vernichtungspotenzial, das damit auf Null gestellt wurde. Es hat eine sehr große Entspannung und Sicherheit für Europa gebracht", betonte Brigadier Walter Feichtinger, Leiter des Instituts für Friedenssicherung und Konfliktmanagement (IFK) in Wien, gegenüber der APA.
Wie lauten die aktuellen Vorwürfe?
Washington wirft Moskau vor, die Iskander-Rakete SSC8 mit einer Reichweite von bis zu 2.500 Kilometern entwickelt, getestet und installiert zu haben. Moskau behauptet hingegen, Washington setze Kampfdrohnen in Krisengebieten wie Afghanistan ein und stationiere Raketensysteme im Rahmen des NATO-Schutzschirms in Rumänien. Nach russischer Ansicht widersprechen diese beiden Systeme dem INF-Abkommen. "Unterm Strich heißt das, man wirft sich gegenseitig vor, wieder in diesen Bereich hineinzugehen und entsprechende Systeme wieder zu entwickeln und dadurch den Vertrag jeweils zu brechen", fasst Feichtinger zusammen.
Was ist an diesen Vorwürfen dran?
Für Feichtinger liegt daran "die Schwierigkeit: Wie kann man das überprüfen?". Im INF-Vertrag wurde ein gegenseitiges Inspektionsrecht festgelegt, das allerdings mit der Umsetzung des Vertrags - dem vollständigen Vernichten der Raketen - am 31. Mai 2001 endete. Der Militärexperte spricht hier von einem "sehr tauglichen" Inspektions- und Kontrollsystem: "Man hat sich gegenseitig in die Karten schauen lassen, das erzeugte ein gewisses Vertrauen und hat schließlich dazu geführt, dass der Vertrag eingehalten wird." Grundsätzlich beginne nun aber eine "neue Phase, in der Rüstungskontrolle in den Augen mancher ihren strategischen Interessen nicht mehr dient".
Warum gerade jetzt?
"Das ist natürlich keine Einzelmaßnahme, es geht hier um ein größeres geopolitisches Wettringen", betonte Feichtinger mit Blick auf China, das "fast ausschließlich solche Kurz- und Mittelstreckenraketen" besitze. Dabei "geht man von 1.600 Stück" aus. Auch für viele US-Experten scheint klar zu sein, dass nicht Russland der Hauptgrund dieser Maßnahme sei, sondern neben China auch Nordkorea. Nach der Aufkündigung des Vertrags könnten die USA durch die Produktion solcher landgestützten ballistischen Raketen und Marschflugkörper auch den Druck auf Pjöngjang erhöhen.
Was wäre die erste Konsequenz?
"Das kann sehr teuer und gefährlich werden", betonte Feichtinger. Die Vertragsdauer ist unbefristet. Jede Vertragspartei hat aber laut Text das Recht davon zurückzutreten, wenn sie der Meinung ist, dass "außergewöhnliche Ereignisse im Zusammenhang mit dem Abkommen ihre höchsten Interessen gefährdet haben". Will eine Partei sich zurückziehen, muss sie den anderen Vertragspartner sechs Monate vor dem endgültigen Rücktritt von diesem Abkommen über ihren Beschluss mit Begründung informieren. Laut Feichtinger würde, wenn Trump nach Ablauf der Frist am 2. Februar den Rückzug ankündigt, eine sechsmonatige "Abkühlphase" folgen. Nach 32 Jahren wär das Abkommen damit im September Geschichte.
Ändert sich für Österreich etwas?
"Nein", betonte der österreichische Brigadier und nennt zwei Gründe: Österreich selber besitzt solche Systeme nicht und ist kein Mitglied des westlichen Militärbündnisses NATO. Aber Feichtinger teilt die Einschätzung vieler Experten: Europa könnte Schauplatz eines Aufrüstens werden.
Droht ein nuklearer Krieg?
Die große Angst, den "Atomkrieg kalkulierbar und führbar zu machen", ist nach Ansicht Feichtingers "sehr berechtigt". Der Grund liege in der Überlegung, dass "kleine taktische Atomwaffen" eingesetzt werden könnten, ohne einen "großen atomaren Gegenschlag" auszulösen. "Das könnte eintreten, wenn man selber mit den konventionellen Kräften nicht in der Lage ist, eine örtliche Situation unter Kontrolle zu bringen", führt Feichtinger aus.
Wie kann sich Österreich vorbereiten?
"Durch rein passive Maßnahmen", erklärt der Militärexperte mit Verweis auf die 1970/80er Jahre. Damals habe es "bauliche Maßnahmen wie etwa Schutzräume sowie vorsorgliche Maßnahmen bis in den Haushalt hinein" gegeben, so hätte die erste Phase nach einem Atomschlag überstanden werden können, ohne sich der atomaren Strahlung auszusetzen. Aber derzeit ist Österreich nach Einschätzung Feichtingers "noch lange davon entfernt". Wenn heute solche Zivilschutzmaßnahmen empfohlen werden, "dann ist das vielmehr im Zusammenhang mit einem Blackout (einem plötzlichen, überregionalen, lange andauernden Stromausfall, Anm.)".