Brexit-Chaos und eine angeschlagene Regierungschefin: Inmitten der Turbulenzen rund um den EU-Austritt Großbritanniens richten sich viele Augen auf Oppositionsführer Jeremy Corbyn. Der Labour-Chef kündigte ein Misstrauensvotum gegen die Regierung von Premierministerin Theresa May "bald" nach der sich abzeichnenden Ablehnung des Brexit-Vertrags im Parlament an.
Im Fall von Neuwahlen könnte sich der 69-Jährige Chancen auf das Amt des Regierungschefs ausrechnen. Sollte sich May nach einer möglicherweise krachenden Niederlage am Dienstagabend im Parlament nicht sofort zum Rücktritt gezwungen sehen, könnte das von Labour geplante Misstrauensvotum Medienberichten zufolge bereits am Mittwoch stattfinden. Verliert May das Misstrauensvotum, könnte das zur Bildung einer neuen Regierung führen. Andernfalls könnten Neuwahlen angesetzt werden.
Corbyn hatte bereits nach Mays Verschiebung der Parlamentsabstimmung zum Brexit-Vertrag im Dezember von einer "Verzweiflungstat" gesprochen. Schon 2017 war er der eigentliche Sieger der von May angesetzten vorgezogenen Parlamentswahl. Er jagte der bis dahin mit absoluter Mehrheit regierenden May viele Stimmen ab und konnte für Labour 29 Sitze im Unterhaus hinzugewinnen. Vor allem Erst- und Jungwähler stimmten in Scharen für Labour - für den Parteilinken Corbyn war das Ergebnis sein bisher größter Erfolg.
Dass er für Überraschungen gut ist, hatte er bereits mit seiner Wahl zum Labour-Vorsitzenden 2015 gezeigt: Bei der Urwahl hatte er knapp 60 Prozent der Stimmen erzielt - zum Entsetzen des noch von der Zeit unter Tony Blair geprägten Parteiestablishments.
Seit 1983 im Unterhaus
Dem Unterhaus gehört Corbyn bereits seit 1983 an, dort fristete er allerdings lange ein Dasein als Hinterbänkler. Größere Bekanntheit erlangte der überzeugte Pazifist als vehementer Kritiker von Premierminister Tony Blair, der den USA in den Irak-Krieg folgte.
Nach seiner Wahl zum Labour-Chef wurde Corbyn von der Basis wie ein Rockstar gefeiert, er zog Hunderttausende neue Mitglieder in die Partei. Dabei half ihm sein Image als liebenswerter Underdog, das der Vater dreier Kinder seither kultiviert.
Der bärtige Abstinenzler und Vegetarier, der kein Auto besitzt, zeigt sich gerne auf dem Fahrrad, im Plausch mit Nachbarn oder in seinem Schrebergarten. Als Hobby gibt er Marmelade-Einkochen an. Seine dritte, 20 Jahre jüngere Ehefrau stammt aus Mexiko.
Es rumort in der Fraktion
Bei aller Euphorie an der Basis für Corbyn - nach dem Brexit-Votum 2016 rumorte es in der Labour-Fraktion gewaltig: Viele Abgeordnete warfen Corbyn vor, sich nicht entschieden genug für einen Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union eingesetzt zu haben.
Mehr als 80 Prozent der Fraktionsmitglieder entzogen ihm das Vertrauen, doch Corbyn lehnte einen Rücktritt ab. Dass seine Beliebtheit an der Basis ungebrochen war, zeigte die zweite Urwahl im September 2016 - knapp 62 Prozent der Parteimitglieder stimmten für ihn.
In Sachen Brexit erfüllt Corbyn aber auch seither die Hoffnungen vieler pro-europäischer Jungwähler nicht. Er ist nicht gegen einen EU-Austritt, wirbt aber immerhin für einen "Jobs-First-Brexit", der möglichst viele Arbeitsplätze im Königreich erhalten soll.
Die meisten Labour-Abgeordneten sind pro-europäisch eingestellt und wollen gegen das Brexit-Abkommen stimmen. Sie spekulieren auf Neuwahlen oder ein zweites Referendum über den EU-Austritt Großbritanniens, was Corbyn aber skeptisch sieht.
May indes warnte ihre Partei vor Neuwahlen und einem möglichen Sieg von Labour. "Ich glaube, dass wir uns das Risiko nicht leisten können, Jeremy Corbyn die Macht in die Hände zu geben", sagte sie im Dezember.
Einen Schatten auf den Labour-Chef werfen auch Ermittlungen von Scotland Yard wegen des Verdachts auf "antisemitische Hassverbrechen" in der Labour-Partei. Corbyn räumte ein, dass Labour ein "echtes Problem" mit Antisemitismus habe, der nicht toleriert werden könne. Dem Palästina-Aktivisten wurde selbst immer wieder Antisemitismus vorgehalten.