Weltweit sind 200 Millionen Frauen nach Angaben der Vereinten Nationen genital verstümmelt. Weibliche Genitalverstümmelung (engl: female genital mutilation, kurz: FGM) wird in rund 30 Ländern in Afrika, dem Mittleren Osten und Asien angewandt. Somaliland weist eine der höchsten Quoten weltweit auf. Sie kämpfen Ihr ganzes Leben schon gegen diese unmenschliche Tradition. Wie weit sind Sie in diesem Kampf gekommen?

Edna Adan: Allein, dass Sie davon gehört haben, ist schon ein Fortschritt. Als ich vor 43 Jahren mit meinem Kampf gegen FGM begann, sprach darüber niemand. Als ich zu Beginn der UN-Frauendekade 1976 in Bonn einige Interviews gab, hieß es noch „weibliche Beschneidung“. Der Begriff Genitalverstümmelung wurde erst später eingeführt. Heute gibt es niemanden in keiner Ecke der Welt, der noch nichts von der Verstümmelung von kleinen Mädchen gehört hat. Nahezu jede Universität hat Studien dazu verfasst. Es gibt viele Projekte weltweit. Die UN haben viele Resolutionen erlassen.

Ist der Kampf schon entschieden?

Adan: Obwohl wir uns den Mund fusselig geredet haben, werden Mädchen noch immer verstümmelt. Wir haben noch immer medizinische Notfälle und Mädchen, die verbluten. Wir haben noch immer Komplikationen, meist noch Jahrzehnte danach. Dennoch haben wir in Somaliland das erste Mal überhaupt den Rückhalt der Regierung. Und im Februar 2018 haben unsere religiösen Führer eine Fatwa erlassen, die die beiden schlimmsten Formen weiblicher Genitalverstümmelung verbietet. Es war die erste Fatwa in einem islamischen Land, die besagt, dass FGM im Widerspruch zu den Lehren des Islam steht – was ich schon seit 43 Jahren sage. Immerhin gibt es nun eine Institution, die sich öffentlich gegen FGM stellt. Damit sind wir wenigstens nicht länger Unruhestifter oder Regimekritiker.

Wie ist die Situation in Somaliland?

Adan: Ich mag Zahlen und vertraue auf Statistiken. Wir haben also die erste umfassende Erhebung in der Welt erstellt. Das war nicht leicht, weil es ein Thema ist, dessen man sich schämt. Es ist nicht vergleichbar mit Polio oder Tuberkulose. Es ist etwas, was den allerintimsten Bereich des weiblichen Körpers betrifft. Man kann nicht einfach zu jemandem hingehen und sagen: Heben Sie Ihren Rock, ich muss nachschauen!

Wie ist es Ihnen gelungen, die Zahlen zu erheben?

Adan: Wir haben die Schwangerschaftsuntersuchungen und die Nachsorge nach der Geburt. Dort habe ich die Gelegenheit, alles zu kontrollieren. Es ist meine Verantwortung für die Gesundheit von Mutter und Kind. Alles, was dann normal und nicht normal ist, wird notiert. In den Formularen gibt es auch eine Zeile zu FGM: Ja oder Nein? Dann kann ich weiterfragen. Ich kann bei „Ja“ sagen: Sie haben FGM – so wie ich. Können Sie sich erinnern, wie das passiert ist? Wenn sie dann ja sagt, kann ich fragen, wer es war und ob es Komplikationen gab und sie Probleme hat. Das alles schreibe ich auf. Und so entstand eine Statistik.

Was war Ihr Ergebnis?

Adan: Im Zeitraum 2002 bis 2006 waren 98 Prozent aller Frauen, die zu den Untersuchungen kamen, genitalverstümmelt. 99 Prozent von diesen Frauen hatte die schwerste der drei FGM-Formen – die Infibulation, bei der das komplette äußere Genital entfernt und bis auf ein kleines Loch zugenäht wird.

Ein erschütterndes Ergebnis.

Adan: Nach all den Jahren des Redens, nach all den Konferenzen in Peking, Kopenhagen, Rom, Nairobi, New York, Washington, Paris, London und Bonn sind 98 Prozent der Frauen noch immer verstümmelt.

Wie entwickelte sich die Zahl seither?

Adan: Bei den nächsten 4000 Frauen, die wir erfasst haben, sank der Wert für die schwerste Form bereits auf 76 Prozent. Zum allerersten Mal sahen wir also eine Verringerung. Derzeit werten wir gerade die nächsten 4000 Geburten aus und rechnen mit einer weiteren deutlichen Senkung. Ich bin 81 Jahre alt und Realistin. Es wird nicht auf null sinken, aber wir werden irgendwann sagen können, dass es nur noch eine Minderheit praktiziert und die Mehrheit es ablehnt.

Wo können Sie gesellschaftlich ansetzen?

Adan: In der Vergangenheit wurde es als reines Frauenproblem angesehen. Die Männer sagten: Wir gehen zum Kaffeetrinken aus dem Raum und ihr Frauen könnt darüber reden. Natürlich betrifft es junge Frauen. Aber Mädchen sind nicht nur die Töchter ihrer Mütter, sondern auch ihrer Väter. Sie tragen den Namen ihrer Väter und diese sind bei uns auch der Chef der Familie. Der Vater ist in der Regel auch besser ausgebildet. Es liegt in der Verantwortung des Vaters, anwesend zu sein, wenn jemand die Gesundheit seiner Tochter beeinträchtigt. Das gehört diskutiert. Er soll nicht jene unterstützen, die seine Tochter verletzen oder verstümmeln, und sie stattdessen vor jeder Verletzung schützen.

Wo kann die Weltgemeinschaft helfen?

Adan: In der Vergangenheit wurde stets betont, dass dies ein afrikanisches Problem sei, in das man sich nicht einmischen wolle. Es ist aber längst ein weltweites Problem, weil die Menschen aus Somalia, Somaliland oder Sudan nach Europa oder Amerika reisen oder flüchten. Deshalb bitte ich auch alle Staaten darum, das Leben und die Gesundheit dieser Mädchen zu schützen.

Aber wie?

Adan: Wenn ich reise, muss ich um ein Visum ansuchen. Ich muss viele Fragen beantworten und überall mit Nein antworten. Es ist ein moralischer Check und Statement, dass ich die Wahrheit sage. Wenn man mir dann das Gegenteil beweist, muss ich mich dafür verantworten. Alles, was ich also erbitte, ist eine zusätzliche Frage: Verstehen Sie, dass FGM ein Verbrechen ist, dass zu Ihrer Ausweisung führen kann? Dies gilt dann nicht nur für die Mutter, sondern auch für Bruder und Vater. Dies würde den Druck auf die jungen Männer erhöhen, die von ihren Familien zum Studium ins Ausland geschickt werden. Die Männer sind der Schlüssel, die Mädchen in der Familie zu schützen. Diese Zeile wäre ein kleiner, aber wirkungsvoller Schritt. In Großbritannien haben sie das bereits. Wenn es dann bei einem Mädchen entdeckt wird, wird die gesamte Familie verantwortlich gemacht.

Sie bitten um internationale Hilfe. Allerdings ist Somaliland nach 25 Jahren noch immer von keinem Land weltweit anerkannt und damit auch finanziell isoliert. Wie beeinflusst das Ihre Arbeit?

Adan: Die Welt verschwendet ihr Geld, wenn sie es nach Mogadischu überweist und Hargeisa ignoriert, isoliert und diskriminiert. Somalia ist der schlimmste Fail State weltweit. Doch statt Somaliland anzuerkennen und damit eines der organisatorischen Wunder Afrikas, hält man an der Unterstützung für Somalia fest. Die Welt verschwendet Steuergelder. Wenn Hilfsorganisationen zum Beispiel Lämmer nach Somalia als Überlebensmaßnahme schicken und sagen, sendet auch welche davon nach Somaliland, wird Mogadischu einen Teufel tun, weil wir nach Unabhängigkeit streben.

Gibt es eine rote Linie der Geduld, wenn die Weltgemeinschaft Sie nicht bald anerkennt?

Adan: Somaliland hat Bombardierungen, wo alles am Boden zerstört wurde, Massenexekutionen und einen Genozid überlebt. Trotzdem erleben wir seit 28 Jahren nur Fortschritt. Wenn es weitere 28 Jahre dauert, bis wir unsere Rechte bekommen, dann können wir warten. Somalia hat jede Gelegenheit bekommen und alle Ressourcen verschwendet, trotzdem steht es schlechter da als vor 28 Jahren. Somalia und Somaliland sind zwei verschiedene Nationen, zwei verschiedene Länder, zwei verschiedene Charaktere, zwei verschiedene Wertesysteme, zwei verschiedene Wege, zu leben. Trotz fehlender Anerkennung haben wir mit Würde und Stolz unsere eigene Identität erkämpft. Wir sind glücklich, dass wir weg sind von Somalia.