Eine Europäische Union, die nicht ständig weiter wächst, sondern im Gegenteil sogar schrumpft – das war bis vor Kurzem noch völlig undenkbar. Erst der Vertrag von Lissabon hat 2007 überhaupt erst diese Möglichkeit geschaffen, und damals mutete sie vielen noch wie ein wirklichkeitsfremdes Gedankenspiel an.
Schließlich war und ist Europa ein Sehnsuchtsort, eine einzigartige Erfolgsgeschichte, die dem nach dem Zweiten Weltkrieg materiell, geistig und moralisch verwüsteten Kontinent nun bald acht Dekaden dauerhaften Friedens und Wohlstands beschert hat. Und so trachtete man in Brüssel und den europäischen Hauptstädten lange Zeit danach, das gemeinsame Haus immer weiter auszubauen. Auf die erste, große Osterweiterung im Jahr 2004 folgte drei Jahre später der Beitritt Rumäniens und Bulgariens. Schon 2005 hatte die Union Beitrittsgespräche mit der Türkei aufgenommen und Mazedonien den Kandidatenstatus verliehen. 2012 starteten die Beitrittsgespräche mit Montenegro, 2014 jene mit Serbien. Im selben Jahr wurde Albanien offiziell in den Wartesaal der EU eingelassen. Und ein Jahr zuvor war am 1. Juli 2013 Kroatien als 28. Mitgliedsland der Union beigetreten.
Brexit als tiefe Zäsur
Zwar hat eine nie da gewesene Häufung von Krisen die EU erweiterungsmüde werden lassen, aber sie wurde schon von ihren Gründervätern und später dann von deren politischen Erben die längste Zeit über als dynamisches, auf räumliche Ausdehnung angelegtes Projekt begriffen. Nur wer das versteht und dementsprechend würdigt, kann ermessen, welche tiefe Zäsur der Brexit für das vereinte Europa bedeutet. Denn auch wenn Großbritanniens Verhältnis zur EU über viele Jahrzehnte hinweg von Ambivalenz geprägt war und sich das Interesse Londons bei scharfer Ablehnung jeder politischen Vertiefung mehr oder weniger auf den Binnenmarkt beschränkte, so ist es doch zum ersten Mal seit ihrem Bestehen, dass ein Mitgliedstaat die Union verlässt.
Nachdem die Briten am 23. Juni 2016 überraschend für den Austritt des Vereinigten Königreichs gestimmt hatten, hat die konservative Premierministerin Theresa May am 29. März 2017 beim Europäischen Rat in Brüssel schriftlich die Scheidung eingereicht. Die Trennung soll nun in weniger als drei Monaten, am 29. März 2019 um 23 Uhr britischer Zeit offiziell vollzogen werden. So sieht es jedenfalls der zwischen der Regierung in London und der EU vereinbarte Fahrplan vor.
Aufrufe zur Einigkeit
Ob das Datum auch wirklich halten und wie der Austritt genau vonstattengehen wird, das liegt zum gegenwärtigen Zeitpunkt freilich noch im Dunkeln. Mit eindringlichen Aufrufen zur Einigkeit hat die in gehörige politische Turbulenzen geratene Premierministerin May in ihrer Neujahrsansprache bei ihren Landsleuten für Unterstützung für das mit Brüssel ausverhandelte Brexit-Abkommen geworben. Die konservative Politikerin war ursprünglich gar nicht für den Brexit. Doch nach dem Sturz ihres Vorgängers David Cameron wähnte sie ihre Stunde gekommen und versucht seither, den EU-Ausstieg geordnet über die Bühne zu bringen.
Doch Mays Blatt ist schlecht. Ihr Brexit-Plan, stößt überall auf Ablehnung, weil das Land durch den Austritt kaum überraschend zunächst nicht mehr, sondern weniger Souveränität erhalten wird. Mays Bitte um Nachverhandlungen haben die Europäer eine Abfuhr erteilt. Glaubt man den politischen Auguren, dann sind die Chancen, dass sie den Brexit-Deal in der dritten Jännerwoche durch das britische Unterhaus bringt, gleich Null.
Das Szenario eines ungeregelten Austritts wird also mit jedem Tag wahrscheinlicher. Seit Monaten wird in grellen Farben das dies- und jenseits des Ärmelkanals drohende Chaos an die Wand gemalt. Zugleich wird der Ruf nach einem zweiten Referendum auf der Insel immer lauter. Ein letztes Strohfeuer? 2019 wird auch darüber hoffentlich Gewissheit schaffen.
Für Merkel wird es das Jahr der Entscheidung
Das Jahr hat Angela Merkel selbstkritisch eingeläutet. Sie denke „vor allem an das überaus schwierige politische Jahr, das heute zu Ende geht“, sagt die deutsche Kanzlerin in ihrer 14. Neujahrsansprache. Sie wisse um die Kritik am Zustandekommen der Großen Koalition wie auch am Zustand ihres Regierungsbündnisses. Das liege am häufigen Streit und an der vielen „Beschäftigung mit uns selbst“. 2018 war bereits ein Prüfstein für ihre vierte Amtszeit, 2019 wird ein weitaus größerer. Denn im Herbst will die SPD – so hat man das im Koalitionsvertrag mit CDU/CSU vereinbart – eine Evaluierung zur Hälfte der Legislaturperiode vornehmen und entscheiden, ob und wie es weitergeht.
Allerdings könnte die Frage schon vorher aufkommen. Wenn die SPD bei der EU-Wahl in bedrohliche Tiefe stürzt. Und die Großkoalitionäre bei den Kommunalwahlen in acht Bundesländern und der Bürgerschaftswahl in Bremen, die alle am 26. Mai stattfinden, ein Desaster erleben.
Die großen Prüfungen stehen aber am 1. September und 27. Oktober an, wenn in Sachsen, Brandenburg und Thüringen der Landtag bestimmt wird. In allen drei Ländern steht die AfD vor dem Sprung zur stärksten Kraft. Spätestens dann dürfte die SPD in Panik geraten und in der CDU die Frage laut werden, wann Merkel ihr Amt übergibt. Sollte die SPD den Koalitionsbruch wagen, würde Merkel die Vertrauensfrage stellen. Sie könnte bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier um Neuwahlen ansuchen. Oder Annegret Kramp-Karrenbauer versucht es vorher noch einmal mit der SPD oder mit Grüne sowie der FDP.