Der Querschuss kam unvermittelt am Tag vor der bundespolitisch aufgeladenen Landtagswahl in Hessen. Der grüne Bundeschef Robert Habeck kritisierte die Asylpolitik der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und wechselte damit in eine Tonart die ungewohnt für eine Partei klang, die in der Flüchtlingsfrage lange auf Merkels Seite stand. Und sich zudem auf einem deutschlandweiten Höhenflug befindet – auch weil sie als Gegenpol zur harten Linie etwa der CSU wahrgenommen wird.

Die Bundesregierung habe „viel zu lange nach dem Prinzip Kopf in den Sand agiert“, sagte Habeck. Der Syrienkrieg sei schon vor dem Jahr 2015 eskaliert, betonte der Grüne, der in Schleswig-Holstein auch Vizeministerpräsident ist. „Aber die Bundesregierung hat Warnungen ignoriert und das Land nicht vorbereitet“, sagte Habeck, der vor seiner politischen Karriere als Schriftsteller berühmt wurde. „Sie hat versäumt, die Behörden personell, finanziell und strukturell so zu stärken, dass sie geordnete Verfahren für eine humanitäre Aufnahme durchführen können.“

Die Kritik kam schon deshalb für die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende zur Unzeit, weil der Wahlgang in dem mitteldeutschen Bundesland heute auch über Merkels Zukunft entscheiden dürfte. Zumindest aber die Diskussion über ihre Person anheizen sollte, wenn ihre Partei jenen Einbruch erlebt, den ihr Umfragen seit Monaten voraussagen. Sollte auch die SPD in Hessen einbrechen, dürfte gar die Große Koalition in Berlin wackeln, inklusive des sozialdemokratischen Spitzenpersonals um Parteichefin Andreas Nahles. Denn die Kritik über das mangelhafte Krisenmanagement der Bundesregierung trifft die SPD ebenfalls.

Die Kritik klingt deshalb so hart, weil die Grünen unter ihrem früheren Vorsitzenden Cem Özdemir den Kurs der Kanzlerin bejubelt hatten. „Bei uns hätte Merkel mehr Beifall bekommen als auf ihrem CDU-Parteitag“, sagte Özdemir 2015. Die Partei kritisierte Merkel nur für Kurskorrekturen wie die Verschärfung des Asylrechts.

Der CDU-Politiker Ruprecht Polenz kritisiert Habeck am Vorwahlabend. Der Grüne sei Profi genug, um die Auswirkungen seiner Aussage unmittelbar vor der Wahl einschätzen zu können, sagte der einstige Vertraute Merkels. Die Aussage erzeugte in den Medien an einem nachrichtenarmen Samstag den erwarteten Widerhall. Das Fazit, so CDU-Mann Polenz: Die Schlagzeile sei von der „Bild“-Zeitung „böswillig“ zugespitzt worden und schade so auch den Grünen, weil deren Klientel in dieser Frage eine klare Haltung zur Kanzlerin hätten. Die CDU könnte unter dieser Aussage leiden, weil „nun selbst die Grünen“ eine kritische Haltung einnehmen würden. Die AfD, die im hessischen Wahlkampf bislang eine kleiner Rolle gespielt hätten, würde hingegen profitieren, so Polenz.

Habeck beschwerte sich über die falsche Zuspitzung in der Schlagzeile zu seinem „Bild am Sonntag“-Interview, das er kurz zuvor gegeben hatte und in der Onlineausgabe bereits am Mittag zu lesen war. Er distanzierte sich vom Eindruck, er habe die Tatsache kritisiert, dass Merkel im Herbst 2015 die Grenze für Flüchtlinge aus Ungarn geöffnet habe. Seine Position sei nicht neu: „Bild stellt einen falschen Zusammenhang her.“

Dem Wahlkampf in Hessen hat die Diskussion um das Zitat noch einmal einen unerwarteten Drall gegeben. Denn am Freitag betonten 40 Prozent der Wahlberechtigten in einer Umfrage, sie hätten sich noch nicht entschieden. Angesichts der vielen Koalitionsmöglichkeiten könnte schon ein kleiner Drall die Verhältnisse noch einmal erheblich verändern.

Hessen gilt seit langer Zeit als Bundeslang mit knappen Mehrheiten. Die schwarz-grüne Regierung hat in den vergangenen fünf Jahren geräuscharm und harmonisch das Land geführt. Dies gilt schon deshalb als Erfolg für beide Parteien, weil in Hessen Grüne und CDU lange Jahre zutiefst verfeindet waren. Legendär waren in den 80iger Jahre die Duelle zwischen dem Ministerpräsidenten Alfred Dregger und Fraktionschef Joschka Fischer. Der Grüne wurde in Hessen 1985 erster Minister seiner Partei in Deutschland und später Außenminister.

Über einer Besonderheit wird übrigens heute noch in Hessen abgestimmt: Seit 1946 steht die Todesstrafe in der Landesverfassung, auch wenn sie nach Bundesrecht verboten ist. Sie soll nun offizielle aus der Verfassung gestrichen werden.