In dem mysteriösen Fall des seit Dienstag verschwundenen saudischen Publizisten und Dissidenten Jamal Khashoggi gibt es eine dramatische Wende. Am Wochenende erklärten türkische Regierungsvertreter gegenüber der „New York Times“ und westlichen Nachrichtenagenturen, ein speziell angereistes Killerkommando habe nach bisherigen Erkenntnissen den Kritiker des 33-jährigen Thronfolgers ermordet und seine Leiche fortgeschafft. 15 saudische Agenten seien am Morgen des Tattages in zwei Privatjets eingeflogen, hätten sich zur gleichen Zeit wie Khashoggi im Konsulat aufgehalten und Istanbul noch am Abend wieder verlassen.

Unberechenbar

Sollte sich der Verdacht eines Auftragsmords durch das Königshaus bestätigen, könnte das für Saudi-Arabien unabsehbare Folgen haben. Das internationale Ansehen und der Reformermythos von Mohammed bin Salman wäre dahin, das angespannte Verhältnis der beiden regionalen Rivalen Türkei und Saudi-Arabien ruiniert.

Auch in den Vereinigten Staaten wächst die Unruhe über das autoritäre und unberechenbare Gehabe des Thronfolgers. Großbritannien sprach von „extrem ernsten Anschuldigungen“. Die amerikanische Regierung allerdings kann einen Mord an Khashoggi bislang nicht bestätigen, geht aber davon aus, dass „etwas vorgeht, und sie es uns nicht sagen“, zitierte die „Washington Post“ einen hohen Beamten. Die saudische Seite dagegen dementiert alle Vorwürfe kategorisch. Kronprinz Mohammed bin Salman erklärte in einem Interview, Khashoggi habe das saudische Konsulat in Istanbul kurz nach dem Betreten wieder verlassen und befinde sich auch nicht in Saudi-Arabien.

Keine Spur

Nach wie vor fehlt von dem Verschwundenen jede Spur, der in dem Gebäude eine Tage zuvor bestellte Scheidungsurkunde abholen wollte, um in Istanbul seine türkische Verlobte zu heiraten. Khashoggi lebte seit einem Jahr im selbstgewählten Exil in den USA und pendelte zwischen Washington, London und Istanbul. Die „Washington Post“, wo er regelmäßig die Politik des saudischen Kronprinzen kritisiert, ließ in der Freitagsausgabe seinen üblichen Kolumnenplatz weiß.
Nach Erkenntnissen der türkischen Polizei gibt es auf keiner der Überwachungskameras rund um das Konsulat eine Spur von Khashoggi. Am Samstag lud der saudische Generalkonsul Mohammad al-Otaibi Journalisten in das Gebäude ein, was offiziell als saudisches Territorium gilt und zwei Eingänge hat. Er forderte die Medienvertreter auf, alle sechs Stockwerke zu inspizieren und sich davon zu überzeugen, dass der Gesuchte nicht anwesend ist. Auf die eigenen Überwachungskameras angesprochen, erklärte der Diplomat, diese würden keine Bilder aufzeichnen.

Whistleblower

Nach Informationen des saudischen Whistleblowers Mujtahidd, der seit 2011 Details aus den inneren Zirkeln des Königshaus ins Netz stellt, wurde Khashoggi gekidnappt und nach Saudi-Arabien gebracht. Die türkische Seite habe zunächst offiziell erklärt, Khashoggi sei noch im Konsulat, um Saudi-Arabien einen gesichtswahrenden Ausweg aus der Staatsaffäre zu ebnen. Parallel dazu habe Ankara Riyadh aufgefordert, den Entführten umgehend nach Istanbul zurückzufliegen und freizulassen. So könnte der von der Türkei jetzt geäußerte Mordverdacht auch dazu dienen, den Druck auf die Saudis zu erhöhen und sie doch noch zum Einlenken zu bewegen. An eine halbwegs rasche und geräuscharme Beilegung des Skandals jedoch ist nicht mehr zu denken. Mohammed bin Salman hat nach eigenen Angaben in den letzten drei Jahren etwa 1500 Personen verhaften lassen, unter anderem Frauenrechtlerinnen und Intellektuelle, aber auch populäre Kleriker oder Kritiker seines Wirtschaftskurses. Sollte sich der Mordverdacht im Fall Khashoggi erhärten, bekäme sein Feldzug gegen Andersdenkende eine ganz neue Dimension des Schreckens.