Der Besuch von Sebastian Kurz in Dublin und London hätte besser nicht passen können. Der Kanzler und EU-Ratsvorsitzende reist mitten in die Chaostage der britischen Regierung. Kurz nachdem der österreichische Regierungschef sein Pendant in Irland besucht hatte, platzte die Meldung in den Abendausklang der Gastdelegation, dass der britische Brexit-Minister David Davis sein Amt hinwirft. Da waren die Worte des irischen Ministerpräsidenten Leo Varadkar vor dem Dublin Castle in Anwesenheit des Kanzlers noch nicht einmal richtig verklungen, dass man nach dem neuen Vorschlag der britischen Premierministerin Theresa May nun deutlich hoffnungsvoller sei als nach dem letzten EU-Gipfel.

Und nur wenige Stunde später dann der nächste Schlag für Mays Regierung: Außenminister Boris Johnson, größter May-Widersacher der Premierministerin und Chef-Brexiteer in der Regierung, schmeißt ebenfalls sein Amt hin. Die Eilmeldung des Senders BBC sprang just auf, als der Kanzler das Flugzeug in London verließ.

Brodeln hinter der Fassade

Obwohl die Regierung wackelt, ließ sich May in der anschließenden Sitzung des Parlaments äußerlich nichts anmerken und machte im Unterhaus weiter, als sei nichts passiert. „Boris ist draußen“ begrüßte sie Kurz herzlich und versicherte ihm, dass es eine starke Führung in London gebe. Auch am Abendessen mit dem Kanzler hielt sie fest. Hinter den Türen in der Downing Street No 10 wurde allerdings sehr wohl über die weiteren Verhandlungen mit der EU gesprochen und auch ein wenig darüber, wie es in London weitergehen soll. "Wichtig ist, dass es in der Sache jetzt zügig weiter geht", sagte Kurz in einer ersten Reaktion auf den extrovertierten Außenminister. "Wer der Ansprechpartner ist, ist nicht so entscheidend." Am Abend wurde dann der bisherige Gesundheitsminister Jeremy Hunt zu Johnsons Nachfolger bestimmt

Aus Verhandlungskreisen der EU hieß es gestern, man warte nun auf die Details des Weißbuches aus London am Donnerstag. Einige Schlagworte seien etwas verwirrend und vermutlich eher für die Brexit-Hardliner formuliert als für die EU-Verhandler. Das Abkommen sei im Grundsatz praktisch weit voran geschritten und schleppe sich seit April de facto eher dahin. Es drehe sich alles um den letzten Streitpunkt Nordirland. Dies sei ein größeres Problem als ursprünglich gedacht, sagte einer, der mit den Verhandlungen vertraut ist. Deshalb hatte sich Kanzler Kurz am Vormittag auch von Dublin aus zunächst an die Grenze zwischen der britischen Provinz Nordirland und der Republik Irland begeben, um dort mit dem Landwirtschaftsminister und der dortigen Polizei über die konkreten Auswirkungen einer harten Grenze mit entsprechender Infrastruktur zu sprechen.

Irland bleibt aber in dem Streit über die Insel nur eine relativ passive Rolle. Im Laufe des Tages zeichnete sich ein Machtkampf innerhalb von Mays konservativer Partei zwischen den Befürwortern eines harten Brexit und den Soft-Brexiteers ab. Die BBC meldete, in der Fraktion der Tories hätte man nun eine Mehrheit für eine Misstrauensabstimmung. May sagte umgehend, dass sie sich jedem Kampf stellen wolle.

Die Streitpunkte

Personenfreizügigkeit

Welchen Status haben die mehr als drei Millionen EU-Bürger in Großbritannien nach dem Brexit? Darüber herrscht Unklarheit. Die EU fordert, dass diese EU-Bürger nach fünf Jahren ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht erhalten und Leistungen aus dem britischen Sozial- und Pensionssystem beziehen können. Die britische Premierministerin schlägt eine Art Sonderstatus für die EU-Bürger vor, doch das reicht Brüssel nicht, denn auch der Familiennachzug ist nicht geklärt. Außerdem will London auf keinen Fall, dass EU-Bürger ihre Rechte in Großbritannien vor dem EuGH, dem Europäischen Gerichtshof einklagen können. Denn es ist ein erklärtes Ziel der britischen Regierung, dass die Rechtsprechung des EuGH in Großbritannien nach dem Brexit Geschichte ist.

Briten wollen Freihandelszone

Umstritten ist auch die Frage, wie es nach dem Brexit mit dem gemeinsamen Handel zwischen Briten und EU weitergehen soll. Spekuliert wurde über verschiedene Szenarien, u. a. eine neue Zollunion, einen britischen EWR-Beitritt sowie die jetzt von Großbritannien präferierte Freihandelszone. Grenzüberschreitende Lieferketten (u. a. in der Autoindustrie) sollen geschützt werden, für Industrie und Landwirtschaft soll es gemeinsame Regeln geben. Auf Produkte, die für die EU bestimmt sind, sollen EU-Zölle erhoben werden. Die EU ist bisher aber skeptisch.

Ein Match um viele Milliarden

Seit Beginn der Brexit-Verhandlungen ist das Geld einer der größten Streitpunkte. Großbritannien zählt zu den größten Nettozahlern. 2016 betrug die Differenz zwischen dem Beitrag in den britischen Haushalt und den Rückflüssen aus den EU-Töpfen rund 5,6 Milliarden Euro. Zudem verlangt die EU, dass Großbritannien alle während der Mitgliedschaft eingegangenen finanziellen Verpflichtungen erfüllt – selbst über das Austrittsdatum Ende März 2019 hinaus. Die Forderungen aus Brüssel sollen bei 60 Milliarden Euro liegen, Großbritannien rechnete zuletzt mit 40 bis 45 Milliarden Euro.

Nordirland

Der südliche Teil Irlands, die Irische Republik, bleibt nach dem Brexit im Binnenmarkt und in der Zollunion, denn die Irische Republik ist ein eigenständiger EU-Staat. Der nördliche Teil der Insel jedoch, Nordirland, ist Teil des Vereinigten Königreichs. Mit dem Brexit verschiebt sich die Außengrenze der EU plötzlich mitten ins irische Land, samt Pass- und Zollkontrollen. Auf beiden Seiten der inneririschen Trennlinie befürchtet man einschneidende wirtschaftliche und politische Folgen.