Was bedeutet der Wahlausgang in der Türkei?
KEREM ÖKTEM: Der De-facto- Zustand von Erdoans Alleinherrschaft ist mit dem Präsidialsystem nun auch rechtlich abgesichert. In der Innen- und Außenpolitik bedeutet das Kontinuität, vielleicht mit einem weiteren Rechtsruck dank der Allianz mit der ultrarechten Nationalistischen Aktionspartei MHP.

Wie fair waren die Wahlen wirklich?
Die Durchführung und Auszählung der Stimmen war von Unregelmäßigkeiten begleitet. Dies scheint aber den Ausgang nicht wesentlich beeinflusst zu haben. Das Hauptproblem war das Vorfeld. Da ging es weder fair noch frei zu. Die Medien sind zu 90 Prozent in der Hand des Staates oder von Geschäftsmännern, die Erdoan besonders nahestehen. Erdoan war dort omnipräsent, während die Opposition im TV nahezu unsichtbar war.

Wird die Türkei zur Diktatur?
Die Türkei steuert spätestens seit dem versuchten Coup 2016 und der Ausrufung des Ausnahmezustands auf eine Diktatur zu. Ab heute ist sie de jure ein Präsidialsystem, in dem fast alle Macht in den Händen des Präsidenten liegt und das Parlament nur eine sehr beschränkte Kontrollfunktion ausüben kann. Die Gewaltenteilung existiert nur noch in Rudimenten. Es wird daher auch von einem sultanistischen System gesprochen. Doch sind die Verfassungs- und Gesetzesänderungen und die neu zu schaffenden Institutionen neu. Es könnte durchaus sein, dass sich das Parlament als alternatives Machtzentrum positioniert. Die AKP hat dort nur noch 42 Prozent, während die Oppositionsparteien gut vertreten sind. Wenn sie zusammenarbeiten, kann es Überraschungen geben.

Werden die Repressionen gegen die Kurden und Andersdenkende nun zunehmen?
Man könnte lapidar sagen, dass es viel schlimmer nicht werden kann. Viel hängt davon ab, wie Erdoan seine neue Macht nutzen wird. Ich sehe da wenig Spielraum für Großzügigkeit, da er nicht als der überzeugende Gewinner aus den Wahlen hervorgegangen ist. Es bleibt ihm nicht viel anderes als die Polarisierung als Methode des Machterhalts. Und es kommen auch andere große Herausforderungen auf ihn zu im Bereich der Wirtschaft. Ob er dem gewachsen ist, werden wir sehen.

Soll Europa die Beitrittsgespräche abbrechen?
Mit dem Übergang zum Präsidialsystem hat sich die Türkei weiter von der EU entfernt. Eine Revitalisierung des Beitrittsprozesses ist erst einmal vom Tisch. Wie immer sollte Europa besonnen reagieren. Es bringt niemandem etwas, das Ergebnis innenpolitisch auszuschlachten. Auch wenn sich die Türkei vom politischen Europa abwendet, so bleibt sie doch ein Teil davon. Wir sollten aber nun noch genauer hinschauen, was am Bosporus passiert. Es ist auch die Zukunft Europas, die in der Türkei auf dem Spiel steht.