Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoan und seine „Volksallianz“ haben in den vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom Sonntag einen fulminanten Sieg errungen. Aber diese Abstimmung wird auch als die unfreieste Wahl der Türkei in die Geschichte eingehen. Unter den Bedingungen des Ausnahmezustands, mit Zehntausenden Oppositionellen im Gefängnis und angesichts einer Propagandamaschine, die inzwischen mehr als 95 Prozent der türkischen Medien kontrolliert, lässt sich schwerlich von einem fairen Urnengang sprechen. Hinzu kommen unzählige Unregelmäßigkeiten. Da wurden Tausende vorgestempelte Wahlscheine entdeckt, Wähler zur offenen Stimmabgabe genötigt, Wahlbeobachter festgenommen.

Letztlich zählt das Ergebnis, wird sich der Präsident sagen. Und die Prognose eines Erdoan-treuen Zeitungskolumnisten hat sich bewahrheitet: „Wenn der Chef die Wahl verlieren könnte, hätte er sie nicht angesetzt.“ Mag der Dauerherrscher auf seinen Veranstaltungen müde und ausgebrannt wirken, jetzt steht er auf dem Zenit seiner Macht. Mit der Wahl tritt ein Präsidialsystem in Kraft, das ihm quasi-diktatorische Machtfülle verleiht und den Ausnahmezustand mit seinen Notverordnungen unnötig macht. Er ist jetzt Staats- und Regierungschef zugleich, kann die Verfassungsrichter allein bestimmen und damit die Gewaltenteilung ad absurdum führen. So hat dieser geniale Machtpolitiker die Demokratie mit den Mitteln der Demokratie geschleift.

Bildes folgen

Es steht zwar außer Frage, dass Erdoan bei rund der Hälfte der Türken so beliebt ist, dass sie ihm fast blind folgen. Aber die „schweigende Mehrheit“ aus dem anatolischen Hinterland wählt den „Chef“ aus vielen Gründen: weil er den Islam wieder stärkte, weil er ihnen ein Gefühl von Respekt gibt, oder schlicht, weil sie wegen der vielen Wohltaten wirtschaftlich von ihm abhängig ist. Auch wenn die Wahlergebnisse zum Teil „getürkt“ sein mögen – dass Erdoan zehn Prozent mehr Stimmen als seine islamistische AKP erhielt, zeigt, wie ungebrochen seine Popularität ist.

Dass die Opposition entgegen allen Prognosen nicht die Parlamentsmehrheit erringen und ein Gegengewicht zu Erdoan bilden kann, liegt an der großen Überraschung dieser Wahl: dem unerwarteten Erfolg der rechtsextremen, mit Erdoan verbündeten MHP, die trotz ihrer Spaltung und obwohl sie fast keinen Wahlkampf machte, mit 11,2 Prozent fast genauso gut abschnitt wie bei der letzten Wahl. Wie lässt sich ihre Auferstehung aus dem Umfragekeller erklären? Das ist eine von vielen Fragen, die sich an diese Wahl knüpfen.

Beispiellose Zusammenarbeit

Es wäre aber voreilig, die Türkei jetzt als weitere Autokratie nach russischem oder mittelasiatischem Vorbild abzutun. Im achtwöchigen Wahlkampf hat die Opposition gezeigt, wie lebendig die Demokratie in den Köpfen und Herzen eines großen Teils der Bevölkerung ist. Indem Millionen zu den Kundgebungen der Opposition strömten, bewiesen sie ihre tiefe Sehnsucht nach einem demokratischen Wandel und die Absage an die drohende Diktatur. Die notorisch zerstrittenen Oppositionsparteien einigten sich in beispielloser Zusammenarbeit auf eine Wahlallianz und verhalfen mit ihren Leihstimmen der prokurdischen Konkurrenzpartei HDP über die undemokratische Zehnprozenthürde. Damit verhinderten sie eine absolute Mehrheit der AKP und sandten ein Signal der Verbundenheit in den kurdisch geprägten Südosten.

Mit dem CHP-Präsidentschaftskandidaten Muharrem Ince hat die Opposition einen Politiker hervorgebracht, der Erdoan rhetorisch ebenbürtig ist, aber statt auf Spaltung auf Versöhnung setzt; von ihm wird noch zu hören sein. 87,5 Prozent Wahlbeteiligung sprechen für die Achtung der Bürger vor der Demokratie. Trotz massiver Einschüchterung stellten sich Zehntausende als freiwillige Wahlhelfer zur Verfügung. Kurz: Das Volk hat den Demokratietest bestanden, der türkische Parlamentarismus leider nicht. Denn die Stärke und Einigkeit der Opposition kommt zu spät. Sie wurde 2015 gebraucht, als die Regierungskritiker eine Mehrheit im Parlament gewannen. Für Millionen Wähler der „anderen Türkei“ stellt sich nun die Frage, wie sie auf den Sieg von Erdoans Machtapparat reagieren und mit ihrer Enttäuschung umgehen sollen. Sie werden die Legitimität der Wahl kaum anerkennen, zumal Ince auf Twitter andeutete, dass ihm mit dem Bürgerkrieg gedroht worden sei, falls er zu Protesten aufriefe.

Unzweifelhaft aber stärkt der Sieg Erdoans Position gegenüber Europa. Gelähmt im inneren Streit, schenkt die EU der demokratischen Erosion an ihren Außengrenzen zu wenig Beachtung und steht Erdoans Winkelzügen konzeptionslos gegenüber. Der Autokrat wird die gewonnene demokratische Legitimierung ausspielen, um Forderungen zu stellen – zu den Flüchtlingen, zur Visaliberalisierung und zu den Beitrittsverhandlungen. Er ist nicht mehr so angreifbar. Was immer er tut, er tut es mit 52,5 Prozent der Bevölkerung im Rücken.