Die EU-Kommission hat am Mittwoch weitere Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen wegen der "systematischen Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit" angekündigt. Eine Entscheidung sei zwar noch nicht gefallen, doch dürfte dies nächste Woche der Fall sein. Die "Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit hat sich deutlich verschärft" und: "Wir sind kurz davor, Artikel 7 auszulösen".
Artikel 7 sieht bei "schwerwiegender und anhaltender Verletzung" der im Vertrag verankerten Werte als schwerste Sanktion eine Aussetzung der Stimmrechte des Mitgliedstaates vor.
Die Brüsseler Behörde meldete "schwerwiegende Bedenken" an und forderte die polnische Regierung auf, ihre umstrittene Justizreform auszusetzen. Der Vizepräsident der EU-Kommission Frans Timmermans betonte, die Unabhängigkeit des polnischen Justizwesens werde "deutlich untergraben". Nach den polnischen Vorschlägen können Richter die im nationalen Richterrat sitzen, abgesetzt werden - ohne konkrete Begründung.
Zuvor hatte die polnische Regierungspartei PiS klar gemacht, dass sie sich nicht aufhalten lassen möchte. Die Verabschiedung der umstrittene Justizreform war am Mittwoch einen Schritt näher gerückt. Die Abgeordneten des Sejm verwiesen das Gesetz am Mittwoch zur weiteren Beratung an den zuständigen Parlamentsausschuss, der sich umgehend damit befassen dürfte.
Als Reaktion auf den Umgang der polnischen Regierung mit dem Gerichtswesen des Landes hatte EU-Justizkommissarin Vera Jourova den Entzug von EU-Fördergeldern angedroht. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass etwa deutsche oder schwedische Steuerzahler für die Errichtung einer Art von Diktatur in einem anderen EU-Land bezahlen wollen", so Jourova zur "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Mittwochsausgabe).
Zur Sprache kommen müsse nun die "Einhaltung von Grundrechten und rechtsstaatlichen Prinzipien als Bedingungen dafür, dass ein EU-Staat Geld vom europäischen Steuerzahler bekommt", sagte die tschechische Kommissarin. Es gehe dabei nicht um laufende Gelder, sondern erst um die Mittel der nächsten Förderperiode, die im Jahr 2021 beginnt.
Systematische Abschaffung der Rechtsstaatlichkeit
Jourova kritisierte die Maßnahmen der rechtsnationalistischen Regierung in Warschau im Justizbereich scharf: "Wir sehen eine systematische Abschaffung der Rechtsstaatlichkeit in Polen, weil das Machtgleichgewicht zwischen Judikative und Exekutive zerstört wird."
Da das von der EU-Kommission eingeleitete Rechtsstaatsverfahren voraussichtlich keine Sanktionen haben werde, müssten neue Druckmittel erwogen werden: "Der Entzug von Fördergeldern ist ein harter Schritt, aber wir müssen über harte Schritte nachdenken", sagte Jourova.
Außer sich
Nach einer hitzigen Attacke des Chefs der Regierungspartei PiS, Jaroslaw Kaczynski, gegen die Opposition hat das polnische Parlament seine Debatte über die umstrittene Justizreform in der Nacht auf Mittwoch vertagt. Kaczynski geriet außer sich, als sich Oppositionsabgeordnete bei ihrer Kritik an der geplanten Justizreform auf seinen Zwillingsbruder, den verstorbenen Präsidenten Lech Kaczynski, beriefen.
"Wischen Sie sich nicht Ihre Verrätermäuler am Namen meines in heiliger Erinnerung bleibenden Bruders ab", rief der PiS-Chef in der Nacht auf Mittwoch. "Sie haben ihn zerstört, ermordet. Sie sind Schurken", beschimpfte er die Opposition. Als eine Abgeordnete darauf antworten wollte, brachte Kaczynski sie mit den Worten "Hau ab!" zum Schweigen. Wenige Minuten später verkündete der Vize-Präsident des Abgeordnetenhauses, dass die Debatte unterbrochen und am Mittwochmorgen fortgesetzt werde.
Die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hat in beiden Parlamentskammern die Mehrheit. Sie will offenbar im Eilverfahren eine Justizreform durchsetzen. Ein Gesetz sieht vor, dass das Parlament künftig über die Besetzung des Landesrichterrats entscheiden soll. Dem bisher als unabhängig geltenden Rat obliegt wiederum die Besetzung der Richterposten an den ordentlichen Gerichten im Land.
Präsident bremst
Staatschef Andrzej Duda, der aus dem Regierungslager stammt, hatte am Dienstag überraschend eine Überarbeitung des Gesetzentwurfs gefordert. Der Europarat und die Europäische Union sorgen sich angesichts der Reformpläne um Polens Rechtsstaatlichkeit. In mehreren polnischen Städten gingen am Dienstagabend wieder tausende Menschen auf die Straßen, um gegen das Vorhaben zu demonstrieren.
Polens damaliger Präsident Lech Kaczynski, seine Ehefrau und 94 weitere Insassen waren am 10. April 2010 bei einem Flug nach Russland ums Leben gekommen. In Polen ranken sich zahlreiche Verschwörungstheorien um den Absturz.
Jaroslaw Kaczynski ist wie viele seiner Landsleute der Ansicht, dass der Absturz der Präsidentenmaschine auf einen Anschlag zurückzuführen sei. Polnische und russische Ermittler waren dagegen zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Zusammenspiel von Pilotenfehlern, dichtem Nebel und einer schlechten Luftüberwachung zu dem Unglück führte.