Mit einem Paukenschlag hat sich die türkische Opposition am Sonntag zurückgemeldet. Mit seinem Marsch für Gerechtigkeit, der mehr als anderthalb Millionen Menschen in Istanbul versammelte, ist dem türkischen Oppositionsführer Kemal Kiliçdaroglu ein Wunder gelungen. Erstmals seit den Gezi-Protesten vor vier Jahren hat sich die „andere Türkei" in ihrer ganzen Stärke auf der Straße gezeigt. Als Kiliçdaroglu seinen Marsch am 15. Juni in Ankara startete, hätte das wohl niemand für möglich gehalten. Millionen zu mobilisieren, gelingt normalerweise keinem Politiker in der Türkei außer dem Präsidenten Recep Tayyip Erdogan - allerdings mithilfe seiner gewaltigen Propagandamaschine. Das hatte Kiliçdaroglu nicht nötig. Die Menschen kamen von selbst. Der Chef der kemalistisch-sozialdemokratischen republikanischen Volkspartei (CHP) hat sich in die Geschichtsbücher eingeschrieben, weil er das ermöglichte.
Tatsächlich reiben sich viele Menschen derzeit die Augen, da sie den „türkischen Gandhi" nicht wiedererkennen. Als Redner war der Mann mit der Aura eines Finanzamtsbeamten, der er einmal war, ein Totalausfall, als Politiker wirkte Kiliçdaroglu unambitioniert. Plötzlich aber steht nicht mehr „Onkel Kemal“ auf der Bühne, sondern ein 69-jähriger Oppositionschef, der befreit, stark und frisch wirkt, als hätte ihn der 450-Kilometer-Marsch von Ankara nach Istanbul nicht erschöpft, sondern gekräftigt.
Ende der "Säuberung"
Was er sagte, klang hart in der Anklage der „Diktatur“, aber zivilisiert und demokratisch bei der Frage nach den nötigen Maßnahmen. Die Teilnehmer riefen nicht nach der Todesstrafe, sondern nach einem Ende der „Säuberungen“, willkürlichen Verhaftungen und Unterdrückung freier Medien.
Mit verblüffender Präzision setzt der Oppositionschef plötzlich politische Signale. Der erste große Coup gelang ihm beim Referendum über die Einführung des exekutiven Präsidialsystems im April, als er die teils bis aufs Blut verfeindeten Strömungen der Opposition mit einer strikt parteiunabhängigen Kampagne vereinte und fast die Hälfte der Stimmen gewann. Genau daran knüpfte er mit dem Gerechtigkeitsmarsch, auf dem ebenfalls keine Parteifahnen zu sehen waren.
Plötzlich ist möglich, was früher undenkbar erschien: Ultranationalisten und linke Kurden demonstrieren Seite an Seite. Mit dieser Vereinigung der stets als schwach und zerstritten geltenden Opposition setzt Kemal Kiliçdaroglu erstmals die politische Agenda und wird dem Präsidenten ernsthaft gefährlich. Und während „Gezi“ politisch verpuffte, ist Kiliçdaroglu jetzt im Begriff, die numerische Stärke in politische Aktion zu übersetzen.
Der Putschversuch steht nicht mehr im Zentrum
Erdogan hat die Wandlung seines Kontrahenten offensichtlich unterschätzt. Als Kiliçdaroglu seinen Marsch in Ankara begann, höhnten der Präsident und seine Getreuen aus der regierenden islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), der Oppositionsführer solle lieber gleich den Hochgeschwindigkeitszug nehmen, weil ihm eh niemand folgen werde. Doch dann kamen erst Hunderte, dann Tausende, schließlich Millionen. Zudem endete der Marsch nur knapp eine Woche vor dem ersten Jahrestag des Putschversuchs, Erdogans neuen türkischen Gründungsmythos. Und auch hier bestimmt Kiliçdaroglu die Agenda: Nicht mehr der Putschversuch, sondern die Gerechtigkeit steht jetzt im Zentrum der Debatte.
Erdogan hat unterschätzt, wie clever Kiliçdaroglu sein Leitmotiv auswählte. Der Oppositionsführer hatte sich zuvor mit Abweichlern aus der AKP beraten, mit welchem Thema er auch bei Erdogans Wählern punkten könne. Ihre Antwort: „Gerechtigkeit“. Tatsächlich bewegt der Wunsch nach einer gerechten Gesellschaft laut einer Umfrage 76 Prozent der Wähler der AKP, die das Wort schließlich im Namen führt. Damit traf Kiliçdaroglu einen Nerv.
Die Antwort Erdogans wird nicht lange auf sich warten lassen. Sein Politikmodell beruht auf kompromissloser Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft, es spricht leider wenig dafür, dass er davon abrückt. Schon nennt die regierungsnahe Presse Kiliçdaroglu einen Freund von Terroristen und fordert seine Inhaftierung. In den nächsten Wochen wird sich zeigen, ob der Oppositionsführer stark genug ist, damit umzugehen. Es wird sich auch zeigen, ob seine ungewöhnliche Koalition politischer Erzfeinde lange genug hält, um Erdogan 2019 die Macht abzunehmen. „Das war nicht das Ende, das ist der Anfang", rief Kiliçdaroglu den Menschen zu. Der türkische Gandhi hat noch einen langen Marsch vor sich.
Frank Nordhausen