Der lange "Marsch der Gerechtigkeit" des Kemal Kilicdaroglu könnte dem politischen Geschick der Türkei eine Wende geben. Sofern der Chef der ehemaligen Staatspartei CHP tatsächlich geläutert ist und nicht am politischen Tiefpunkt versucht, eine Querfront zu mobilisieren, sondern jene zu einen, die mit der islamisch-konservativen Machtpolitik des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan unzufrieden sind.
Demonstrationen sind in der Türkei üblich. Seit 27. Mai 1995 beispielsweise gibt es jeden Samstag eine Mahnwache am zentralen Galatasaray-Platz im Istanbuler Stadtteil Beyoglu. Die sogenannten Samstagsmütter fordern Rechenschaft vom Staat, wo ihre verschwundenen Kinder sind. Zum Weltfrauentag am 8. März färben sich die Straßen lilafarben, zehntausende Frauen gehen auf die Straße. Legendär sind die Zeiten von "Gezi", als im Mai und Juni 2013 in der gesamten Türkei gegen die Vormundschaft des Staates demonstriert wurde, nachdem im zentralen Istanbuler Gezi-Park Bäume gefällt worden waren. Ebenfalls hunderttausende gingen nach dem missglückten Putschversuch vom 15. Juli 2016 auf die Straße, bei sogenannten "Demokratiewachen", um zu verhindern, dass das Militär doch noch siegreich aus dem Machtkampf um die Herrschaft hervorgeht.
Friedlich und respektvoll
Alle diese Demonstrationen und Volkskundgebungen haben zwei Dinge gemeinsam: Sie verlaufen in absoluter Ruhe und mit großem Respekt und Freundlichkeit untereinander. Dabei entsteht auch schnell Volksfeststimmung: Fliegende Händler verkaufen dem Anlass entsprechende Flaggen, Banner und Trillerpfeifen - in rot für Nationalisten, in grün für Islamisten und in lila für Feministen. Und damit wird bereits das zweite Merkmal der türkischen Protestkultur deutlich: Es fehlt das einende Element. Für einen Moment mag dieses in Gezi aufgeflackert sein, immerhin ist das Bedürfnis nach Umweltschutz universell. Aber die meisten Demonstrationen führen zu einer weiteren Polarisierung der Gesellschaft, nicht zur gemeinsamen Suche nach Lösungen.
Gemeinsam für eine Sache eintretend sieht man die Türken freilich selten auf der Straße. Das versucht der Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, Parteichef der säkular-sozialdemokratischen CHP nun zu ändern. Sein "Marsch für Gerechtigkeit", den er aus Protest gegen die Verhaftung von Journalisten und Parlamentariern vor 25 Tagen begonnen hat, fand am Sonntagabend sein fulminantes Ende im Istanbuler Stadtteil Maltepe. Es waren sogar etwas mehr Menschen gekommen, als die Veranstalter erwartet hatten. Mindestens 1,6 Millionen Menschen waren bereits gegen Mittag zum Schauplatz gekommen, um Kilicdaroglu, der fast 450 Kilometer zu Fuß zurückgelegt hatte, zu begrüßen und zu feiern.
Für den Höhepunkt seines "Marsches für Gerechtigkeit", der am Sonntag in Istanbul zu Ende ging, hatte der Oppositionschef bestimmt, dass keine Parteiembleme auf dem weiträumigen Gelände in Maltepe zu sehen sein würden. Daran haben sich die meisten Anwesenden gehalten. Statt bunter Vielfalt dominierten die Nationalfarben Weiß und Rot und das schlichte Wort "Gerechtigkeit". Kilicdaroglu versucht die Menschen nicht unter dem Parteidach, sondern unter dem Wunsch nach Gerechtigkeit zu einen. Ein kluger Schachzug, denn wer könnte guten Gewissens auf diesen Grundstein der Demokratie verzichten? "Recht, Rechte, Gerechtigkeit", skandierten die Marschierenden und auch die Demonstranten in Maltepe.
Dennoch fällt es großen Teilen der Bevölkerung nicht leicht, Kilicdaroglu und seinen Marsch für Gerechtigkeit zu unterstützen. Ziemlich arrogant, oft auch brutal, ist die CHP, die ehemalige Partei Atatürks, gegenüber den Konservativen, den Gläubigen und den Kurden gegenüber aufgetreten. Erstmals versucht die Partei nun, die ehemaligen politischen Gegner ins Boot zu holen. Nicht wenige sind dem Ruf gefolgt: Der muslimische Prediger Ihsan Eliacik hat Kilicdaroglu bei seinem Marsch ebenso begleitet, wie einige Spitzenpolitiker der kurdischen Bewegung, darunter Ahmet Türk, Filiz Keresticioglu und der Altkommunist Ertugrul Kürkcü, sowie Abdüllatif Sener, ein ehemaliges Gründungsmitglied der Regierungspartei AKP.
Kilicdaroglu, der seit 2010 Parteivorsitzender ist, hat während seiner Regierungszeit nicht viele Höhepunkte für seine Partei oder die Sache der säkularen Türken erreicht. Mit seiner zurückhaltenden Beamtenart punktet er nicht einmal in den eigenen Reihen, neben dem familiär polternden Staatschef Recep Tayyip Erdogan verblasst er wie rosa Nelken neben roten Rosen.
Als Kilicdaroglu gegen den Willen der eigenen Partei ziemlich spontan auf den langen Marsch von Ankara nach Istanbul gegangen ist, hat er sich Schritt für Schritt ein neues Karma erlaufen. Seine Anhänger vergleichen seinen Marsch für Gerechtigkeit mit Gandhi, glauben sogar, dass er diesen noch überflügelt habe.
Sicher ist, dass Kilicdaroglu einen Bußgang hinter sich gebracht hat, der auch von den Teilen der Gesellschaft, die ebenfalls in Opposition zu Erdogan und seiner Parteilinie stehen, genau gesehen wurde. Sicher ist auch, dass der Marsch bisher ein echter Erfolg war: Es sind mehr Menschen als erwartet zur Schlusskundgebung in Maltepe gekommen.
In den kommenden Tagen wird sich erweisen, ob sich daraus eine neue, schlagkräftige Opposition bilden wird, die tatsächlich geläutert ist und sich unter dem Stichwort "Gerechtigkeit" formieren kann. "Das ist erst der Anfang", versprach Kilicdaroglu in seiner Rede. Aber vielleicht wird die Energie, die er durch seinen körperlichen Einsatz freigesetzt hat, auch leer verpuffen. Es wird davon abhängen, ob es tatsächlich um die Suche nach Gerechtigkeit ging oder doch nur um das eigene Leid der ehemaligen Staatspartei, die heute nur noch Zaungast der Staatsgeschicke ist. Denn auf die Straße gehen die Türken gerne - nur leider selten, wenn es um das Leid der anderen geht.