Im Europaparlament geht das Rennen um die Nachfolge des scheidenden Präsidenten Martin Schulz in die heiße Phase - und der Ausgang scheint völlig offen. Denn entgegen der seit Jahren üblichen Praxis haben die beiden größten Fraktionen jeweils einen Kandidaten nominiert.

Für die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) steigt Antonio Tajani in den Ring, für die Sozialdemokraten deren Fraktionschef Gianni Pittella. Damit zeichnet sich am 17. Jänner eine Kampfabstimmung zwischen den beiden Italienern ab.

Antonio Tajani, Kandidat der Konservativen
Antonio Tajani, Kandidat der Konservativen © EPA

Dabei schien ursprünglich alles geregelt: Nach der Europawahl Mitte 2014 hatten sich Schulz, der EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU) und der Vorsitzende der Liberalen Guy Verhofstadt schriftlich auf einen Deal geeinigt. Christdemokraten und Liberale unterstützten damals die Wiederwahl von Schulz - was eine Premiere im Europaparlament war. Im Gegenzug sagte der SPD-Politiker zu, er werde seinen Posten im Jänner 2017 für einen EVP-Kandidaten räumen.

Wortbruch der Sozialdemokraten

Zwischenzeitlich versuchte Schulz zwar, dennoch eine Mehrheit für seine Wiederwahl zu organisieren. Doch Weber pochte auf die Vereinbarung - und so warf Schulz schließlich das Handtuch: Am 24. Oktober gab er bekannt, er werde nicht erneut kandidieren, sondern seine Karriere nun in Deutschland fortsetzen. Umso größer war die Überraschung, als ein paar Tage später Pittella seine Kandidatur ankündigte. In der EVP-Fraktion herrscht Empörung. Die Rede ist von Wortbruch oder gar von einer Kriegserklärung.

Gianni Pittella (rechts) neben Luxemburgs Migrationsminister Jean Asselborn und dem Bulgarischen Premierminister Serguei Stanichev
Gianni Pittella (rechts) neben Luxemburgs Migrationsminister Jean Asselborn und dem Bulgarischen Premierminister Serguei Stanichev © APA/AFP/POOL/DOMINIQUE FAGET

Vor allem ist vielen EVP-Abgeordneten die Strategie der Sozialdemokraten unverständlich. Denn seit bei der letzten Europawahl mehr als hundert europaskeptische oder gar europafeindliche Populisten in das Straßburger Parlament gewählt wurden, sind Christ- und Sozialdemokraten und Liberale zusammengerückt. In einer Art Großen Koalition sammelten sie die notwendigen Mehrheiten, um EU-Gesetze zu verabschieden. Und in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode stehen mehrere Gesetzesinitiativen an, die gerade den Linken am Herzen liegen - etwa zur einer sozialen Union. "Ohne uns läuft das nicht", sagt ein Mitglied der EVP-Fraktion, der mit 216 Abgeordneten größten Gruppe im Parlament.

Umstrittener Berlusconi-Weggefährte

Pittella scheint davon unbeeindruckt. Dass er doch noch auf eine Kandidatur verzichtet, ist nach Angaben aus seiner Fraktion unwahrscheinlich. Chancen erhofft sich der 58-Jährige, weil der EVP-Kandidat Tajani - ein Weggefährte des italienischen Ex-Regierungschefs Silvio Berlusconi - im Parlament alles andere als unumstritten ist.

Vor allem Linke und Grüne werfen ihm vor, er habe als früherer Industriekommissar einseitig die Interessen der Wirtschaft vertreten. Außerdem werden dem 63-Jährigen Versäumnisse der EU-Kommission angesichts der gefälschten Abgastests bei VW und anderen Autobauern angelastet. "Antonio Tajani ist nicht wählbar", sagt der deutsche Grüne Sven Giegold. Er habe als Kommissar den Dieselmanipulationen jahrelang tatenlos zugesehen. "Ein umweltpolitischer Schmutzfink ist in Zeiten der Klimakrise im Amt des Parlamentspräsidenten völlig fehl am Platz".

Schulz stärkte das Parlament

Selbst in der EVP-Fraktion hält sich die Begeisterung in Grenzen. Bei einer geheimen Abstimmung erzielte Tajani zwar das beste Ergebnis - doch stand die Fraktion keinesfalls geschlossen hinter ihm. Schulz habe dem Parlament während seiner fünfjährigen Präsidentschaft zu mehr Macht und Sichtbarkeit verholfen, sagt eine französische Abgeordnete. "Die Erwartungen an den Präsidenten sind damit enorm gestiegen."

Diesen Erwartungen werden nach Überzeugung vieler EU-Volksvertreter weder Pittella noch Tajani gerecht. Einige Abgeordnete denken daher laut über Alternativen nach. Dabei fällt immer wieder der Name Verhofstadt, den die Liberalen in den Ring schicken wollen. Der ehemalige belgische Regierungschef wird fraktionsübergreifend geschätzt. Er spricht mehrere Sprachen und ist ein geschulter Redner - wie Schulz.