"Natürlich wird auf uns geschossen", sagt Ala Hooms. Die Syrerin ist im Jänner aus dem syrischen Raqqa in die südosttürkische Provinz Gaziantep geflüchtet - nachts. "Mein Mann und ich haben nur überlebt, weil die Dunkelheit uns geschützt hat", schildert die 27-jährige Lehrerin. "Doch andere Flüchtlinge wurden von türkischen Grenzbeamten aus der Ferne erschossen", sagt sie mit fester Stimme.

Flüchtlingen drohe der Tod

Überprüfen lassen sich die Aussagen der Frau nicht, die bei Verwandten in Gaziantep untergekommen ist, und darüber nachdenkt, wie ihr Leben weitergehen könnte. Doch immer wieder berichten Menschenrechtsorganisationen davon, dass Flüchtlingen an der türkisch-syrischen Grenze der Tod droht.

Mitte Mai veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) ein Video auf ihrer Homepage, auf dem deutlich verletzte Leichen zu sehen sind. Bei den Toten soll es sich um syrische Flüchtlinge und Schlepper handeln, die an der türkisch-syrischen Grenze von türkischen Grenzbeamten erschossen oder zu Tode geprügelt worden seien. Es gibt aber keine Bilder von Gewalt anwendenden Beamten, die HRW präsentiert.

Was Hooms über die Kritik von HRW denkt? "Ich habe es doch am eigenen Leib erlebt, ich kenne Syrer, die auf der Flucht von Türken ermordet wurden", antwortet sie immer noch mit fester Stimme, einen Tee trinkend. "Doch für die Aussagen von uns interessiert sich doch sowieso niemand", sagt sie und schaut dabei mit zornigem Blick. "Wir Syrer sind schon lange Menschen dritter Klasse."

Zeugenaussagen

In dem Bericht von HRW werden detailreiche Zeugenaussagen zitiert, welche die Behauptung von den tödlichen Schüssen und Misshandlungen belegen sollen. Ein betroffener Flüchtling schildert: "Plötzlich, als wir etwa 500 Meter von der Grenze entfernt waren, hörten wir, dass eine automatische Waffe von dort abgefeuert wurde." Bei dem Angriff seien seine Schwester und sein Cousin ums Leben gekommen.

Im März und April seien fünf Menschen getötet worden, schreibt HRW, weitere 14 seien schwer verletzt worden - darunter auch Kinder. Die oppositionelle Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, die sich auf Informanten aus dem Bürgerkriegsland stützt, geht sogar von noch mehr Grenztoten aus: Sie dokumentierte in den vergangenen vier Monaten 16 Tote.

"Europa solle nicht zusehen"

"Auf traumatisierte Männer, Frauen und Kinder zu schießen, die vor Kämpfen und Kriegen flüchten, ist wirklich erschreckend", kritisierte der HRW-Flüchtlingsexperte Gerry Simpson. Obwohl türkische Regierungsvertreter immer wieder beteuern würden, dass die Türkei die Fliehenden mit offenen Armen empfange, würden diese von Grenzbeamten umgebracht. Europa solle nicht dabei zusehen, wie die Türkei "mit scharfer Munition und Gewehrkolben" versuche, die Flüchtlingsströme einzudämmen, so Simpson.

Auch Fawaz Sibai schildert, dass er im Jänner fast gestorben sei, auf seinem Weg in die Türkei aus der vom "Islamischen Staat" (IS) besetzen Stadt Raqqa. Der 53-jährige Journalist sitzt in einem Teehaus in Gaziantep, und nimmt keinen Blatt vor den Mund: "Meine zwei Kinder, meine Frau und ich sind nachts über das Grenzgelände gerannt, als auf uns geschossen wurde", sagt er. Die Schüsse auf die Familie hätten erst nach Minuten aufgehört. "Wir haben uns auf den Boden geworfen, und sind dann einfach innerhalb von Stunden hinübergekrochen", so Sibai, und schiebt zornig hinterher. "Die Türkei will uns nicht, niemand will uns, aber wir sind doch nur Menschen!"

2,75 Millionen syrische Flüchtlinge registriert

Rund 2,75 Millionen syrische Flüchtlinge hat Ankara nach eigenen Angaben registriert - mehr als jedes andere Land. Doch die Türkei schottet sich immer mehr ab. So wird in Kilis an der syrisch-türkischen Grenze momentan eine Betonmauer gebaut, um den illegalen Grenzübergang zu erschweren. Zusätzlich werden immer mehr Wachtürme aufgestellt, Selbstschussanlagen sind im Bau.

Nach Regierungsangaben wurden bisher umgerechnet knapp 8,8 Milliarden Euro alleine für die Flüchtlinge in den Camps ausgegeben, die immer wieder als Vorzeigeeinrichtungen lobend von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan erwähnt werden. Doch auch aus diesen gelangten in der vergangenen Woche Negativschlagzeilen über den Umgang mit Flüchtlingen an die Öffentlichkeit.

Sexueller Missbrauch

Im Flüchtlingslager Nizip nahe Gaziantep, sollen rund 30 syrische Buben sexuell missbraucht worden sein. Die türkische Tageszeitung "Birgün" berichtete, dass eine Reinigungskraft sich im vergangenen Jahr an den Kindern vergangenen habe, und nun deswegen vor Gericht stehe.

Die Syrerin Hooms und der Syrer Sibai sind sich sicher, dass noch mehr unaufgedeckte Gräueltaten an den Flüchtlingen begangen werden. "Die Welt interessiert sich doch schon seit langer Zeit nicht mehr für uns. Jeder Flüchtling weiß, dass er auf der Flucht von einem türkischen Soldaten erschossen werden kann - und wir wissen alle, dass es jedem egal ist", kritisiert sie, und hält sich dabei an der Teetasse fest. Sibai, der wenige Meter weiter immer noch in dem Teehaus sitzt, fragt mit Verzweiflung in der Stimme: "Wem nutzt es, wenn all die Verbrechen an uns bekannt werden? Es ändert nichts an unserer elendigen Situation!"