Juncker verteidigte die Einigung der 28 Staats- und Regierungschefs, bis Juni nächsten Jahres die Gesetzgebungsverfahren zum gemeinsamen europäischen Grenzschutz umzusetzen. "Das muss sich der Rat zur Brust ziehen, das Parlament muss mitmachen, das dauert normal sechs Monate. Dann muss es stehen und laufen." Darauf angesprochen, was in der Zwischenzeit mit der schon beschlossenen Umverteilung von Flüchtlingen passiert, sagte Juncker: "Ich bin nicht übermäßig optimistisch, dass das gelingt. Das Thema gestern und heute wird der Schutz der Außengrenzen sein."

Die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite meinte zum Zeitplan für den Grenzschutz, dass "wir keine Wahl haben. Wenn das nicht gelungen wäre, würde es zu lange dauern. Wir haben keine Zeit." Der estnische Premier Taavi Roivas sieht in der Flüchtlingsfrage "große Fortschritte". Es müsste jetzt sehr schnell die gemeinsame Grenzschutzsicherung etabliert werden.

Tschechiens Regierungschef Bohuslav Sobotka wies indes die Forderung von Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) zurück, den osteuropäischen Staaten EU-Mittel bei der Verweigerung der Aufnahme von Flüchtlingen zu kürzen. "Ich denke, dass das keine Chance auf Annahme hat", sagte Sobotka am Freitag beim EU-Gipfel in Brüssel. Gemeinsam mit der Slowakei, Ungarn und Polen werde man einen solchen Vorschlag verhindern.

Die EU-Kommission will einen gemeinsamen Grenz- und Küstenschutz aufbauen - und noch während der niederländischen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2016 rechtlich umsetzen. Er soll neben 1.000 festen Mitarbeitern über eine Reserve von 1.500 Grenzschützern verfügen, die in Krisensituationen binnen drei Tagen entsandt werden können - normalerweise auf Anforderung eines Mitgliedstaats. Notfalls sollen die Beamten aber auch gegen den Willen einer Regierung in den Einsatz geschickt werden, die ihren Verpflichtungen zum Grenzschutz nicht nachkommt.

Der EU-Ratsvorsitzende Donald Tusk betonte die Priorität eines Schutzes der Außengrenzen der Union. Ohne ihn könne man "keine politische Einheit haben, dann wird das mehr sein als nur ein Auseinanderbrechen von Schengen."

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zeigte sich am Donnerstag zufrieden, dass sein Vorschlag breite Zustimmung gefunden habe. Ähnlich Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ): "Ich glaube das war ein Schritt in die richtige Richtung." Die 28 Staats- und Regierungschefs hätten einige Punkte beschlossen, die "operativ sehr wichtig sind". "Wir müssen den Winter nutzen, wir brauchen eine Lösung", warnte Faymann.

Bei den Gesprächen mit seinen Amtskollegen habe er erneut darauf hingewiesen, dass Solidarität keine Einbahnstraße sei, erklärte Faymann. "Deutliche Worte helfen die Dramatik der Situation, aber auch die Notwendigkeit einer Lösung anzusprechen." Im Vorfeld hatte der Bundeskanzler im Streit um die europaweite Verteilung von Flüchtlingen den Osteuropäern mit der Kürzung der EU-Beiträge gedroht. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban hatte diesen Vorstoß als "Erpressung" kritisiert. "Man tut gut daran, dass man uns ernst nimmt", so Faymann in Richtung Orban.

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sagte, die Spaltung Europas in der Frage sei "unübersehbar". Faymanns Worte zeigten, "wie dramatisch die Lage ist". Während die EU-Nettozahler Flüchtlinge aufnähmen, wollten sich "die Nehmerländer an der Bewältigung der Problematik nicht beteiligen".

Ein hochrangiger EU-Vertreter sagte, "einige" Länder hätten Vorbehalte wegen eines drohenden Eingriffs in die nationale Souveränität geäußert. Es wäre daher "keine Überraschung", wenn sich der endgültige Beschluss von den Vorstellungen der Kommission unterscheiden werde. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sprach allerdings nur von einem Land mit Vorbehalten.

Die EU-Chefs stellten in der Abschlusserklärung selbstkritisch fest, dass bisher die Umsetzung beschlossener Maßnahmen in der Flüchtlingskrise "unzureichend" sei und beschleunigt werden müsse. Dies gelte nicht nur für die Grenzsicherung, sondern auch für die Funktionstüchtigkeit von Registrierungszentren für Flüchtlinge in Italien und Griechenland. Auch die Beschlüsse zur Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen innerhalb der EU müssten umgesetzt werden. Die EU-Kommission soll zudem "schnell" eine Überprüfung des Dublin-Systems zum europäischen Asylsystem vorlegen..

Während bereits das Thema verstärkter Grenzschutz die EU entzweit, warb Merkel für Faymanns Vorschlag, weitere Flüchtlinge direkt aus der Türkei aufzunehmen. Bei einem Treffen von elf EU-Staaten - der Koalition der "Willigen" - in der österreichischen Ständigen Vertretung in Brüssel, mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu vor dem Gipfel sei ein "Arbeitsprozess" vereinbart worden, der auch für alle anderen Mitgliedstaaten offen sei.

Allerdings erwarteten weder Faymann noch Merkel eine schnelle Entscheidung zu Aufnahmekontingenten. "Wir können ja nicht Beschlüsse fassen, bevor die Grenzsicherung funktioniert. Wir können nur einen Mechanismus erarbeiten." Die Gruppe habe intensiv darüber diskutiert. Merkel erwartete auch bis zum nächsten Gipfel im Februar keine Festlegung auf Zahlen für die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Türkei.

Faymann hatte sich am Mittwoch dafür ausgesprochen, Ankara "40.000 bis 50.000" Flüchtlinge abzunehmen. Der niederländische Regierungschef Mark Rutte sagte nach dem Treffen mit Davutoglu, solche Pläne seien erst vorstellbar, wenn die Flüchtlingszahlen "gegen Null gehen". Belgien als weiteres Teilnehmerland des Treffens schloss eine Beteiligung gänzlich aus.

Die EU und die türkische Regierung hatten Ende November vereinbart, dass die Türkei im Gegenzug für Visa-Erleichterungen für türkische Bürger sowie Milliardenhilfen den Zustrom von Migranten eindämmt. In der Gipfelerklärung hieß es, dass bald entschieden sein soll, woher die insgesamt drei Milliarden Euro für die Türkei kommen: Diplomaten zufolge dürften eine Milliarde Euro aus dem EU-Haushalt stammen und zwei Milliarden von den Mitgliedsländern.