Auf den ersten Blick sind die gestrigen Beschlüsse des Ständigen Ausschusses, des wichtigsten Gremiums des Nationalen Volkskongresses, revolutionär: Die berüchtigten Umerziehungslager werden abgeschafft und die sogenannte Einkindpolitik wird gelockert! Beide Reformen waren Mitte November nach einem Treffen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei angekündigt worden.

Gestern meldete die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua, das System der Umerziehungslager habe "über Jahre hinweg eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Stabilität gespielt". Doch seien in den vergangenen Jahren andere Maßnahmen zur Durchsetzung von Gesetz und Ordnung eingeführt worden. Das System der Umerziehungslager habe daher "seine historische Mission" erfüllt.

Die nach dem sowjetischen System der Gulags organisierten Lager werden also zügig geschlossen. Zum Rechtsstaat wird die Volksrepublik China deshalb aber wohl noch lange nicht. So behauptet die Organisation Chinese Human Rights Defenders (CHRD), die Behörden hätten bereits ein System "schwarzer Gefängnisse" etabliert, in denen sie unliebsame Aktivisten und Petitionäre verschwinden ließen. Andere Arbeitslager würden nun zwar "Rehazentren für Drogensüchtige" heißen, das Prinzip der Zwangseinweisungen missliebiger Menschen bleibe aber unverändert.

Ähnlich halbherzig dürfte es auch bei der Änderung der Einkindpolitik zugehen. Tatsächlich stimmte der Ständige Ausschuss den Plänen der Regierung zu, die Einkindpolitik an die demografische Entwicklung anzupassen. Diese Politik, wonach Paare im bevölkerungsreichsten Land der Erde nur in wenigen Ausnahmen mehr als ein Kind bekommen dürfen, bestand seit den 1970er-Jahren.

Künftig dürfen Paare nun ein zweites Kind bekommen, wenn ein Elternteil ein Einzelkind ist. Bis dato galt diese Ausnahme nur, wenn beide Elternteile Einzelkinder sind. Weitere Ausnahmen gibt es für die Landbevölkerung und ethnische Minderheiten wie die Tibeter oder Uiguren, die aber insgesamt nur etwas mehr als acht Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen und daher nicht sehr ins Gewicht fallen.

130 Buben auf 100 Mädchen

Die Einkindpolitik wurde bisher häufig mit brutalen Mitteln durchgesetzt, es gibt Berichte über erzwungene Spätabtreibungen und Zwangssterilisation. Mit der Lockerung der bisherigen Regeln will Peking dem Problem der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft und der selektiven Abtreibung weiblicher Föten entgegenwirken. Heute kommen in China auf 130 Buben nur noch 100 Mädchen.

Gegen die Einkindpolitik und die Umerziehungslager hatte es in den vergangenen Jahren zunehmend Widerstand gegeben, zumal die Beschränkungen von jenen häufig umgangen werden, die genügend Geld haben. Sie zahlen die Strafen, die bei einem zweiten Kind verhängt werden. Diese sind allerdings saftig. Kürzlich musste der chinesische Starregisseur Zhang Yimou zugeben, Vater von drei Kindern zu sein. Ihm und seiner Frau droht eine hohe Geldstrafe, die das Fünf- bis Achtfache ihres gemeinsamen Jahreseinkommens betragen kann.

Die Lockerung der Einkindbestimmungen wird in dem 1,3-Milliarden-Einwohner-Reich aber keinen Babyboom auslösen. China hat sich wirtschaftlich und sozial stark verändert. Viele Chinesen wollen - ähnlich der Entwicklung im Westen - heute nur noch ein Kind. Vor allem fürchten sie, dass sie nicht genug Geld für ein zweites Kind haben.