Das größte Geschenk hat die Parteiführung bereits verteilt: Mit einem milliardenschweren Stimulus-Paket hat Peking den heimischen Aktien nach anhaltender Misere nun die beste Woche des Jahrzehnts beschert. Es ist, als wolle Staatschef Xi Jinping dem gebeutelten Volk eine Portion Zuversicht verpassen. Denn wenn die Volksrepublik am 1. Oktober ihren 75. Geburtstag begeht, gibt es für die meisten der 1,4 Milliarden Chinesen wenig zu feiern: Die Jugendarbeitslosigkeit befindet sich auf einem Rekordhoch und die Immobilienkrise hat innerhalb der breiten Mittelschicht zu einem empfindlichen Wohlstandsverlust geführt. Die Jahre des wirtschaftlichen Booms und des Grundoptimismus sind vorüber.

Geht dem Drachen also langsam die Puste aus? Für Xi Jinping, den mächtigsten Staatschef seit Mao Zedong, hat die Transformation seines Heimatlandes gerade erst angefangen. In seiner dritten Amtszeit arbeitet der 71-Jährige mit Hochdruck daran, den jahrzehntelang gültigen Gesellschaftsvertrag der kommunistischen Partei grundlegend zu ändern. 

Ein Rückblick: Seit Deng Xiaoping (1904-92) das Land mithilfe marktwirtschaftlicher Reformen aus bitterer Armut heraus hievte, lautete das pragmatische Versprechen der KP: Solange die Partei für stetig wachsenden Wohlstand sorgt, würde die Masse auf ihr Recht auf politische Mitbestimmung freiwillig verzichten. Und die KP lieferte: Der Reichtum kam – wenn auch ungleich verteilt – rasant beim Volk an. Von 1980 bis 2010 wuchs das Bruttoinlandsprodukt der Volksrepublik im Schnitt um knapp zehn Prozent – jedes Jahr. 

Der Boom ist vorbei, aber ...

Doch der Boom ist vorbei. Für Xi ist das verlangsamte Wachstum ein Preis, den er ganz bewusst zu zahlen bereit ist. Dem überzeugten Kommunisten geht es vor allem um ideologische Treue und nationale Sicherheit. Statt Reichtum verspricht er seinem Volk patriotisches Selbstbewusstsein. In seiner Vision des „chinesischen Traums“ soll die „verweichlichte“ Jugend den Gürtel enger schnallen, um für einen erstarkten, sozialistischen Staat zu arbeiten, der zwar technologische Errungenschaften hervorbringt, jedoch für das Individuum nicht mehr unbedingt ein wohlhabendes, durch Wohlfahrt abgesichertes Leben verheißt. Im Gegenteil: Xi lehnt einen „dekadenten“ Sozialstaat nach europäischem Vorbild ab, dieser würde die „Arbeitsmoral“ des Volkes schwächen.

Abwendung vom Westen

Xis neue Ära sieht gleichzeitig vor, dass China erstmals offensiv auf der internationalen Bühne auftritt und machtpolitisch seine Interessen verfolgt – aktuell ist dies bei den territorialen Streitigkeiten im Südchinesischen Meer am eindrücklichsten zu sehen. Vom Westen hingegen hat sich das Land in den letzten Jahren immer stärker abgewandt. Die USA werden zwar aufgrund ihrer militärischen und wirtschaftlichen Stärke notgedrungen respektiert, doch in Peking gibt es keine Illusion mehr darüber, dass sich der wohl entscheidende bilaterale Konflikt der Gegenwart auf absehbare Zeit grundlegend entspannen könnte. Europa spielt in Chinas Weltbild eine ambivalente Rolle: Als Exportmarkt für chinesische Produkte wird der „alte Kontinent“ umgarnt. Doch sobald die EU den transatlantischen Schulterschluss stärkt, wartet Peking mit ökonomischen Vergeltungsmaßnahmen auf. 

Die Militärmacht tritt immer selbstbewusster auf und geht wirtschaftlich neue Wege
Die Militärmacht tritt immer selbstbewusster auf und geht wirtschaftlich neue Wege © Imago

Vor allem der globale Süden rückte in das Interesse Chinas: Von Afrika über Nahost bis hin nach Zentralasien präsentiert man sich als alternative Weltmacht, die die Hegemonie der Vereinigten Staaten ablösen möchte. Dafür formt China die Institutionen der liberalen Weltordnung nach den eigenen Vorstellungen um. In den letzten Jahren hat kein Land so viele Führungspositionen innerhalb der Vereinten Nationen besetzen können wie China. 

All dies bedeutet auch ein Umdenken für heimische Firmen, die in China nach wie vor ihr Geschäft machen wollen. Der Markt ist politischer geworden, stärker staatlich gelenkt. Privatkonzerne können nur mehr dann florieren, wenn sie sich aktiv den von Peking ausgegebenen Zielen der Fünfjahrespläne fügen. Und bei den Kernindustrien, die Xi Jinping mit flächendeckenden Subventionen zur Staatssache erklärt hat, haben ausländische Betriebe fast immer das Nachsehen.