Benjamin Netanjahu kämpft nicht das erste Mal um sein politisches Überleben. Der israelische Ministerpräsident stand schon öfter in der Kritik der Bevölkerung: Wegen einer höchst umstrittenen Justizreform oder wegen seiner angeblich korrupten Machenschaften zog es die Massen bereits auf die Straße.

Staatspräsident entschuldigt sich für Geisel-Tod

Nun ist Netanjahu abermals in der Kritik und auf den Straßen Israels ist es wieder laut. Hunderttausende blockierten am Sonntag wichtige Straßen, Kreuzungen und Bahnhöfe. Ein für Montag geplanter Generalstreik musste kurzfristig beendet werden, da er von einem Gericht untersagt wurde. Der Vorwurf, der auf den Protestmärschen laut wird: Netanjahu hätte kein Interesse daran, die Geiseln, die die radikal-islamische Hamas am 7. Oktober gefangen genommen hat, zu befreien. Der Tod weiterer sechs Geiseln, die am Montag im Gazastreifen gefunden wurden, bestärkt seine Kritiker.

„Netanjahus Beharren darauf, die Gefangenen durch militärischen Druck zu befreien, anstatt eine Einigung zu erzielen, bedeutet, dass sie in Leichentüchern zu ihren Familien zurückgebracht werden“, sagt die Hamas, die den Krieg ausgelöst und die Geiseln verschleppt hat. Netanjahu selbst kann womöglich nicht anders, als den Krieg fortzuführen. Solange im Land der Ausnahmezustand herrscht, ist sein politisches Überleben vorerst gesichert - denn mit Kriegsende dürfte es zu Neuwahlen kommen, die auch das Ende der Ära Netanjahu zur Folge haben könnte. Parallel macht er sich immer mehr von Hardlinern wie Finanzminister Bezalel Smotrich abhängig, die keinerlei Einlenken im Kampf gegen die Hamas zulassen wollen.

Für den Regierungschef wird es abermals eng. „Ich entschuldige mich im Namen des Staates Israel dafür, dass wir dich bei der schrecklichen Katastrophe vom 7. Oktober nicht beschützt haben, dass wir dich nicht sicher nach Hause bringen konnten“, sagte Israels Staatspräsident Jitzchak Herzog.

Umfragen der Meinungsforscherin Dahlia Scheindlin legen zudem nahe, dass sich eine Mehrheit in Israel ein Abkommen wünsche, um die Geiseln freizubekommen. Und wie steht es um die Zahlen für Netanjahu? Diese ändern sich - auch abhängig von den aktuellen Ereignissen - häufig. Manchmal ist eine Mehrheit für Netanjahu, manchmal wieder gegen ihn.

Netanjahu stark in der Kritik

Es ist eine von vielen Episoden während des Krieges, in denen er den Unmut der Bevölkerung zu spüren bekommt. Bisher hat er es immer wieder geschafft, im Schatten der Krise mit den militärisch hochgefährlichen Nachbarländern innenpolitisch die Zügel zu behalten.

In Israel mehren sich die Proteste
In Israel mehren sich die Proteste © AFP / Ahmad Gharabli

Doch nun scheint es um mehr zu gehen. Nicht mehr um Abkommen ja oder nein, um Netanjahu ja oder nein, sondern um die Frage, was den Staat Israel ausmacht. „Herr Ministerpräsident, wir fordern Sie auf, unsere gemeinsamen jüdischen Werte hochzuhalten und den Geiseln, deren Leben in Ihren Händen liegt, Priorität einzuräumen“, schreiben die Eltern einer Geisel in einem Gastbeitrag für die „New York Times“. Welche das sind und ob Netanjahu ihnen noch gerecht wird, bleibt wohl noch länger Teil einer israelischen Diskussion.