Aldershot, die „Heimstatt der britischen Armee“, lebt vom zähen Stolz auf die Streitkräfte und die Militärgeschichte des Landes. Weitflächige Kasernen-Viertel, in denen hinter Stacheldraht Tausende von Armee-Angehörigen mit ihren Familien leben, Trainingsgelände und Krieger-Denkmäler scharen sich hier um eine Kleinstadt, die in der viktorianischen Ära – auf dem Höhepunkt des Empire – zur Blüte kam.

Wellington Street, Windsor Way oder Gun Hill (Kanonenhügel) lauten hier die Straßennamen. Im Postamt verkaufen sie außer Briefmarken auch kleine Stoff-Mohnblumen zum Gedenken an die Gefallenen. Kein Wunder, dass Leo Docherty, der konservative Abgeordnete aus Aldershot, selbst Veteran ist, und von Premier Rishi Sunak heuer zum Staatssekretär für die Streitkräfte berufen wurde.

Für Docherty ist „eine starke nationale Verteidigung“ entscheidend fürs Wohl des Vereinigten Königreichs. Und seine Pflicht sei es, „unsere Souveränität zu wahren“. Darum habe er sich auch für den Austritt aus der EU stark gemacht, „weil einzig die britische Wählerschaft die Kontrolle über britische Gesetze, die britischen Grenzen und britisches Geld haben soll“.

Mitten im blauen Gürtel

Docherty erhielt 2019, bei den letzten, für den Brexit entscheidenden Unterhauswahlen 17.000 Stimmen mehr als die Labour Party. Das schien den Tories der Stadt durchaus selbstverständlich in dieser Dimension. Denn Aldershot hat in den letzten hundert Jahren nie anders als konservativ gewählt. Es liegt mitten in Südenglands „blue wall“, dem Tory-blauen Territorium bisher uneinnehmbarer ländlicher Hochburgen. Als Margaret Thatcher nach dem Falkland-Krieg die Nation 1983 an die Urnen rief, kam Labour, das für eine diplomatische Lösung plädiert hatte, in Aldershot gerade mal auf 10,8 Prozent.

Umso panischer sehen Dochertys Konservative nun bei der Parlamentswahl am Donnerstag eine „rote Welle“ auf ihr Land zurollen, die nicht nur die 2019 an die Tories gefallenen Labour-Gebiete im Norden wieder rot einfärben, sondern womöglich weite Teile des Südens überspülen könnte.

Besonders übelgenommen hat man Sunak in Aldershot, dass er den D-Day-Feiern in Frankreich vorzeitig den Rücken kehrte, nur um ein weiteres Wahlkampf-Interview zu absolvieren.
Besonders übelgenommen hat man Sunak in Aldershot, dass er den D-Day-Feiern in Frankreich vorzeitig den Rücken kehrte, nur um ein weiteres Wahlkampf-Interview zu absolvieren. © Phil Noble

Ein beispielloser und nicht länger zu ignorierender Zorn über die Tories liegt in der Luft. Von den Passanten, mit denen man in Aldershot ins Gespräch kommt, klagen viele über „das fürchterliche Durcheinander“, das die Konservativen gleich unter mehreren Premierministern angerichtet hat. Von gesunkenen Einkünften, unbezahlbaren Hypotheken, einer auch den Mittelstand ängstigenden Krise der Lebenshaltungskosten ist die Rede. Das Gesundheitssystem sei „eine Katastrophe“, findet jedermann.

An Schulplätzen herrscht kaum irgendwo ein solcher Mangel wie hier in diesem Wahlkreis. Und Angehörige der Streitkräfte beschuldigen die Regierung, sie habe sie finanziell im Stich gelassen. Besonders übelgenommen hat man Sunak in Aldershot, dass er den D-Day-Feiern in Frankreich vorzeitig den Rücken kehrte, nur um ein weiteres Wahlkampf-Interview zu absolvieren. Immer mehr seiner Gäste machten kein Geheimnis mehr daraus, dass sie „genug von den Tories“ hätten, erzählt Barkeeper Ryan Lyddall im Kaffehaus Karuna. Auch unter Leuten, die früher für die Konservativen gestimmt hätten, sei „der Unmut enorm“.

Ein Stadt im Niedergang

In Aldershot haben neue Sanierungs-Bemühungen den langfristigen Niedergang nicht wettmachen können. Die Stadt, meint Lyddall, hänge sozusagen „zwischendrin“. Tatsächlich trifft man, wohin man geht, zwischen den kleinen Billigpreis-Läden, Wettbüros und ostasiatischen Imbisstuben auf jede Menge aufgegebener Geschäfte und leerer Arkaden.

In dieser Situation müssen die Tories auch hier befürchten, dass sie „ihre“ Wähler an andere Parteien verliert. Labour kommt dabei zugute, dass viele Londoner, die eher progressive Ansichten vertreten, in letzten Jahren ins Umland gezogen sind. Nigel Farages Rechtspopulisten hoffen angesichts der allgemeinen Unzufriedenheit auf 15 bis 20 Prozent. Die Tories könnten dadurch von 60 Prozent glatt auf die Hälfte absacken. Labour-Kandidatin Alex Baker glaubt jedenfalls, dass es „ganz knapp“ werden wird zwischen ihr und Leo Docherty.