Angstzustände, Schweißausbrüche, Schlaflosigkeit, das sind die Symptome, die viele Franzosen derzeit beklagen. Einen Tag nach Präsident Emmanuel Macrons Ankündigung, die Nationalversammlung aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen, berichteten französische Therapeuten und Psychiater von Patienten, die die politische Lage des Landes komplett aus der Bahn geworfen habe. „Alle Parameter, die Ängstlichkeit verstärken, kommen zusammen: Überraschung, Sorge und Unsicherheit angesichts der Zukunft“, sagt Gladys Mondière, Vorsitzende des französischen Psychologenverbandes.

Es ist der kürzeste Wahlkampf seit Jahrzehnten und zugleich einer, der eine historische Dimension hat. Zum ersten Mal könnten die Rechtspopulisten von Marine Le Pen stärkste Kraft im Palais Bourbon werden. Selbst eine absolute Mehrheit können Experten derzeit nicht ausschließen. Le Pens Rassemblement Nation (RN) wird aller Wahrscheinlichkeit nach seinen Höhenflug der Europawahlen fortsetzen und zwischen 30 und 35 Prozent der Stimmen bekommen. Der Nouveau Front Populaire (NFP), eine Koalition der größten linken Parteien, wird auf maximal 29 Prozent geschätzt. Der große Verlierer steht jetzt schon fest: Das liberale Parteibündnis von Macron, „Zusammen für die Republik“, darf mit höchstens 20 Prozent rechnen und dürfte einen Großteil seiner Sitze verlieren.

Wahlplakate ohne Macrons Fotos

Entsetzen und Enttäuschung über Macrons Entscheidung sind selbst innerhalb seiner eigenen Partei so groß, dass sich zahlreiche Wegegefährten von ihm abwenden. Viele Abgeordnete seiner Partei Renaissance, die einen hoffnungslosen Kampf in ihren Wahlkreisen antreten müssen, sind so verbittert, dass sie Macrons Foto von ihren Wahlplakaten verbannt haben.

„Es ist so weit“, sagt der Politloge Pascal Perrineau, „der Anti-Macronismus ist stärker als der Anti-Lepenismus. Das ist der Moment, da alle Türen offenstehen und der RN die politische Macht übernehmen kann“. Der Hass gegen Macron, die Ablehnung seiner Person und der Elite, für die er steht, seien bei den Wählern des rechten wie auch des linken Blocks inzwischen der kleinsten gemeinsame Nenner.

Nach dem Scheitern des Linksbündnisses Nupes, die sich im Umfeld der Terrorattacke der Hamas am 7. Oktober selbst zerlegt hatte, hielt Macron eine linke Koalition für ausgeschlossen. Das war sein Irrtum. Denn in diesem Wahlkampf steht so viel auf dem Spiel, dass die Sozialisten sehr schnell über ihren Schatten gesprungen sind und sich mit der verhassten Linkspartei von Jean-Luc Mélenchon verbündet haben. Es ist schon jetzt abzusehen, dass diese Koalition nicht lange halten wird. Indem man sich kurz vereint, dient das Bündnis vor allem dazu, sich nicht gegenseitig Konkurrenz zu machen und die maximale Zahl von Sitzen herauszuschlagen.

Frankreichs Konservative (Les Républicains) haben derweil ein Psychodrama aufgeführt, nachdem Parteichef Eric Ciotti ein Bündnis mit dem RN ankündigt hat. Er wurde aus der Parteiausgeschlossen, verweigerte aber den Rücktritt. Die Folge ist, dass sich in vielen Wahlbezirken zwei konservative Kandidaten Konkurrenz machen werden, die Abtrünnigen von Ciotti und diejenigen, die die Brandmauer zum RN aufrechterhalten wollen. Die Partei hat sich damit gespalten. Es dürfte ihr Todesstoß gewesen sein.

Bardella will nur mit absoluter Mehrheit Premier werden

Sollte der RN gewinnen, wird der Präsident wohl auch in diesem Fall der ungeschriebenen Regel folgen und einen Vertreter der stärksten Partei zum Regierungschef ernennen. Parteichef Jordan Bardella hat bereits im Vorfeld angekündigt, dass er das Amt nur unter der Bedingung antrete werde, dass seine Partei die absolute Mehrheit hat. Aufgrund der Eigenheiten des französischen Mehrheitswahlrechts in zwei Runden sind die Voraussagen derzeit von vielen Unwägbarkeiten geprägt. Gut möglich, dass es für keinen Block eine absolute Mehrheit gibt. Experten prophezeien eine politische Blockade, die eine Krise der politischen Institutionen nach sich ziehen könnte. 

Seit bald zwei Wochen rätseln Analysten, Politologen und auch Wirtschaftsexperten, was den Präsidenten bei seiner Entscheidung geritten hat. Gut möglich, dass er nur einem Misstrauensvotum zuvorkommen wollte, das ihm im Herbst ohnehin gedroht hätte. Im Elysée weist man darauf hin, dass Frankreich wegen der chaotischen Verhältnisse in der Nationalversammlung nicht mehr regierbar gewesen sei. Der Präsident wolle dem Volk seine Stimme zurückgeben, die Parteien in die Verantwortung nehmen. „Es ist ein Vertrauensbeweis“, versichert ein Präsidentenberater gegenüber der Kleinen Zeitung.

Offensichtlich hofft Macron, dass sich viele Wähler bei der Wahl zwischen zwei Extremen für den Pragmatismus der Mitte entscheiden werden. Doch die Stimmung ist aufgeheizt. Dazu hat auch die schockierende Gruppenvergewaltigung eines erst 12-jährigen Mädchens jüdischer Konfession durch zwei Gleichaltrige im Pariser Vorort Courbevoie beigetragen. Der eindeutig antisemitische Charakter der Tat hat Kritik an Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon ausgelöst, der nicht erst seit der Entschuldigung der Terrorattacke der Hamas des Antisemitismus bezichtigt wird. Mélenchon sprach von „Rest-Antisemitismus“ in Frankreich, womit er gezielt der „offiziellen Propaganda“ widersprach, wie er es formulierte. Man fühlt sich an die Affäre von „Papy Voise“ während des Präsidentschaftswahlkampfs 2002 erinnert. Damals wurde ein Rentner bei sich zu Hause zusammengeschlagen. Sicherheit wurde zum zentralen Thema. Wenige Tage später kam Jean-Marie Le Pen für den Front National überraschend in die Stichwahl.